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Der Rattenfänger von Hameln

Es war der 8. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland (SED), der im Mai 1981 in Ost-Berlin stattfand. Alle anderen sozialistischen Parteien hatten ihre Delegationen entsandt. Michail Suslow, ein hochrangiger Apparatschik, vertrat die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU). Während des Kongresses hielt er eine fast halbstündige Rede. Die Rede war die übliche Klatsche, dass der Sozialismus überall auf der Welt gewinnt und der Kapitalismus verliert. Genosse Suslow, ansonsten der wichtigste Ideologe der KPdSU, versicherte die ostdeutschen Genossen auch der Unterstützung und Freundschaft Moskaus, der Bewunderung des Kremls für die Errungenschaften der ostdeutschen Kommunisten und dergleichen mehr. Damals wurden solche Reden zu Hunderten von sozialistischen oder kommunistischen Parteiführern in allen sozialistischen Ländern anlässlich von Parteitagen oder nationalen Feiertagen oder Jahrestagen der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution oder Feierlichkeiten zum 1. Mai (Tag der Arbeit) gehalten.

Das war im Jahr 1981. Genosse Suslow war in einem Jahr tot. Erich Honecker, der Führer der SED, wurde in acht Jahren gestürzt; in zehn Jahren gab es keine Sowjetunion mehr. Genosse Honecker, der dem sowjetischen Würdenträger ebenso wie den Delegierten des Kongresses hin und wieder applaudierte, wirkte bei den Worten Michail Suslows selbstzufrieden und fühlte sich rundum wohl. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass die DDR noch in kaum einem Jahrzehnt ihren historischen Lauf nehmen und von ihrem westlichen, kapitalistischen Nachbarn, der Bundesrepublik Deutschland, einverleibt wird. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er in acht Jahren aus seinem Land nach Russland, nun eine postsowjetische Republik fliehen, da Asyl suchen wird und dass ihm dort ein längerer Aufenthalt verwehrt wird. Er hätte nicht gedacht, dass er seine letzten Jahre ausgerechnet in Chile verbringen wird, wohin er schließlich auf Einladung seines Schwiegersohns gehen wird. Es wäre ihm nicht in den Sinn gekommen, dass er von den Ostdeutschen so sehr verabscheut wird; ebenso wenig wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass man ihm vor seiner Abreise nach Russland einige Wochen Gastfreundschaft gewähren wird und dass er  damals vor dem Zorn des Volkes, das er regierte,  von einem christlichen Priester geschützt wird. Erich Honecker mag sich jede andere Zukunft als diese vorgestellt haben. Er mag einen Palastputsch befürchtet haben: Das war in sozialistischen Ländern die übliche politische Praxis, und er selbst war auf diese Weise an die Macht gekommen. Er mag sich einen Weltkrieg ausgemalt haben, einen Konflikt zwischen dem West- und dem Ostblock, Feindseligkeiten zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Sicherlich glaubte er nicht, dass seine geliebte Deutsche Demokratische Republik von heute auf morgen verschwinden wird, und sicherlich war er sich sicher, dass die Sowjetunion, die mit Atomwaffen bewaffnete Supermacht, die ständig eine Besatzung in der Erdumlaufbahn hatte, in absehbarer Zeit weiter existieren wird. Erich Honecker muss sich des Fortbestands des politischen Ostblocks um so sicherer gewesen sein, dass die im Palast der Republik, wo der Kongress stattfand, versammelten Delegierten so enthusiastisch und hoffnungsvoll waren.

Heutige Politiker und Anhänger heutiger Ideologien sollten besser in die Vergangenheit schauen und nachdenken. Sie sollten sich alte Dokumentarfilme ansehen und alte Zeitungen lesen. Sie sollten sich in die Lage der damaligen Menschen versetzen und dann ihre Schlüsse ziehen. Ja, auch das heutige politische Establishment wird trotz der vielen Zusicherungen, dass wir uns auf dem Weg in eine gute Zukunft befinden, seinen Lauf nehmen. Ja, die Spitzenpolitiker von heute werden eines Tages um ihr Leben rennen und vielleicht auf den Philippinen oder in Argentinien Schutz finden. Ja, die politischen Cheerleader von heute werden morgen die Männer und Frauen verabscheuen, denen sie heute noch mit Händen und Füßen dienen. Ja, die Ideologen von heute werden den elenden und unausweichlichen Tod ihrer Ideologien erleben. Einige von ihnen werden ihm von der Unterwelt zusehen.

Und wissen Sie was? Neue Ideologien und neue Ideologen werden auftauchen, um die Menschen zu verführen, und die Menschen werden einer anderen Inkarnation des Rattenfängers von Hameln folgen. Manche aus Überzeugung, manche aus Bequemlichkeit. Nur wenige werden sich wehren. Nur wenige werden sich die Mühe machen, etwas aus der Vergangenheit zu lernen.

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