Die Entscheidung zum Abschuss der russischen Su-24 war eine politische Entscheidung, welche die Ungeduld der Türken wegen russischer Handlungen in Syrien zum Ausdruck bringt und die nicht unbedingt eine Folge der Luftraumverletzung ist. Sie zeigte auch die politische Unreife und die Kurzsichtigkeit der Türkei. Für Russland ist das ein Schlag, der ernste internationale Konsequenzen bringen kann. Für die Türkei kann dieser Fehler in einer sehr langen Perspektive den Verlust eines Teils ihres Gebietes an Kurden bedeuten.
Kontext und Verlauf der Ereignisse
Sollte es nach jeder Luftraumverletzung zu einem Flugzeugabschuss kommen, wäre der Dritte Weltkrieg längst über baltischen Staaten ausgebrochen, wo es zu solchen Zwischenfällen oft, nicht nur aus Verschulden russischer Piloten, kommt. Es ist angebracht, dass bei solchen Fällen die Knüpfung des Augenkontaktes zwischen Flugzeugen beider Seiten herzustellen ist, damit die Identifizierung des Eindringlings hundertprozentig bestätigt wird. Demnächst wird das fremde Flugzeug eskortiert und aus eigenem Luftraum herausgeführt.
Schon vor vielen Wochen erlaubten sich die Russen den türkischen Luftraum zu verletzen und wurden über potentielle Folgen gewarnt. Die Warnungen wurden auch am Dienstag vor dem unglücklichen Ereignis wieder gesendet. Die ganze Prozedur beschrieb der Militärexperte Can Kasapoglu für die Deutsche Welle:
„Wer immer in die 12-Meilen-Zone (20 Kilometer) vor dem türkischen Luftraum eindringt, wird gewarnt. Wenn sich eine Maschine auf fünf Meilen (8 Kilometer) dem türkischen Luftraum nähert, macht die Türkei die F-16-Abfangjäger startklar und gibt weitere Warnungen ab. Abgeschossen wird jede Maschine, die, von Syrien kommend, türkischen Luftraum verletzt.”
Das kann sogar türkische Erklärungen zu zehnmaligen Warnungen gegenüber den sich nahenden Maschinen, als die Russen in der Nähe des südlichsten Gebietes der Türkei, das sich keilförmig ins syrische Territorium eindrückt, nachvollziehbar machen und bestätigen. Hier kommen wir zur Sache. Ein Augenblick auf die Karte und einfache Kalkulationen reichen aus, um die Empörung Russlands zu verstehen.
Am Ort, wo es angeblich zur Verletzung des türkischen Luftraums kam, ist das türkische Gebiet, von dem Syrien gehörenden Boden umgeben, etwa 2,5 km breit. Wenn wir sogar annehmen, dass zwei russische Flugzeuge nicht mit Maximalgeschwindigkeit und nur mit ca. 1200 km/h flogen, hätte ihnen das Durchschneiden des türkischen Luftraums 7-8 und keine 17 Sekunden, wie die Türken angeben, in Anspruch genommen. In einer so kurzen Zeit hätte es nicht zur Feststellung der „Identität” der Maschinen kommen können, was offiziell in einer Erklärung bestätigt wurde, in der gesagt wurde, dass türkische Piloten nicht gewusst hätten, an wen sie schießen1.
Sie wussten nicht oder sie hatten keine Lust sich zu vergewissern, weil man von russischen Einsätzen auf den Gebieten, die durch Anti-Assad-Rebellen besetzt sind, lange weiß. Das Ziel war also klar und der Befehl bewusst. Wegen der kurzen Flugzeit in ihrem Luftraum mussten sich die türkischen F-16 sehr beeilen, die Raketen abzufeuern. Es ist nicht auszuschließen, dass es zum Zeitpunkt des Abschusses in der Tat außerhalb der türkischen Grenzen kam.
Um den Kontext noch zu ergänzen, ist die politische Lage zu schildern. Die Russen nahmen u.a. am Kampf gegen Verbände von in Syrien lebenden Turkmenen, die in der Opposition gegen den Präsidenten Baschar al-Assad sind, teil. Das turkmenische Heer kann sogar bis zu 10 Tausend Mann stark sein2, die türkischsprachige Bevölkerung stellt die drittgrößte ethnische Gruppe in Syrien (nach Arabern und Kurden) dar. Aus der türkischen Perspektive war der russische Angriff gegen die Turkmenen mit einer Attacke der Amerikaner auf Stellungen der Verbände von Volksrepublik Donezk vergleichbar. Das hätte in der Türkei eine Wut entfachen müssen, die vom Zeitpunkt der Unterstützung für den Hauptfeind der Türkei in diesem Konflikt, also Assad, anstieg. Der Präsident Recep Erdogan und türkische Politiker hatten also Gründe genug, die Bestrebungen von Wladimir Putin zu bändigen. Das Abschneiden von der Quelle billigen Öls aus dem Islamischen Staat und auch die Perspektive, eine globale Koalition gegen die ISIS aufzubauen, waren den Türken auch nicht gelegen. Die Unterbindung der Zusammenarbeit der NATO mit Russland in Syrien und dem Irak konnte eines der Ziele nicht nur der Türkei, sondern auch der USA gewesen sein.
Folgen und Putins Antwort
1. Eine breite Koalition des Westens und Russlands im Kampf gegen den Islamischen Staat wurde unrealistisch. Auf Knüpfung der Zusammenarbeit und Koordinierung der Handlungen können weiterhin Russen und Franzosen bestehen, die Türkei wird sich hingegen entschieden, bei einer leisen Unterstützung seitens der USA, die auch keine Lust haben, Schulter an Schulter mit den Russen wegen abweichender Ziele in der Region zu kämpfen, widersetzen. Diese zwei Staaten hatten ihr Interesse am Abschuss der russischen Su-24, um ein antiterroristisches Bündnis zu verhindern und Russland in die Rolle des Angreifers wieder zu drängen.
Den Russen liegt es jedoch an der Zusammenarbeit sehr, weil es ihnen den Weg zu weiteren Handlungen und schließlich zur Aufhebung der Sanktionen eröffnet. Der russische Botschafter in Frankreich, Alexandr Orlow sagte im Radio Europe 1: „Es kann viele Arten der Koalitionen geben. Am wichtigsten ist die Koordinierung, die eine Notwendigkeit ist, aber wir wollen noch einen Schritt weiter gehen, einen gemeinsamen Plan der Angriffe gegen ISIL zu schaffen. Zu diesem Zweck könnten wir einen gemeinsamen Generalstab zusammen mit Frankreich, den USA und jedem anderen koalitionswilligen Land bilden”. Vielleicht kommt es also zu einer Koalition mit Teilnahme aller interessierten Staaten nicht, aber die Zusammenarbeit zwischen Frankreich und Russland wird eher entwickelt.
2. Die Entstehung Kurdistans. Die logischste und natürlichste Antwort Russlands auf den Zwischenfall von Dienstag ist die Unterstützung der Kurden. Natürlich nicht offiziell, um die Türken noch nicht mehr zu verärgern. Russland kann den Bitten der Kurden nachkommen, indem es Waffen an PYD (Partei der Demokratischen Union), also der syrischen Sparte der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans), die in Nordsyrien tätig ist, liefert. Deren Stärkung würde sich Assad nicht allzu widersetzen, da es für den türkischen Staat, wo 15 Mio. Kurden leben, äußerst gefährlich wäre.
Langfristig, sollte es zur Entstehung eines kurdischen Staates kommen, ist es weit leichter, wenn außer der Unterstützung Deutschlands und der USA, die Kurden auf Zustimmung Russlands zählen könnten. Internationale Anerkennung ist eine der Säulen jeder Staatlichkeit.
3. Abkühlung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Russland und der Türkei, besonders auf dem Gebiet der Energieversorgung. Die militärische Zusammenarbeit wurde bereits eingestellt. Probleme mit der Errichtung des „Turkstreams” schwellen seit langem an und bei einer Feindschaft zwischen den Staaten wäre die Entstehung einer neuen Gasleitung nicht mehr möglich. Die Türkei kann sich allzu kühne Züge gegenüber Russland nicht leisten, wenn 60% ihres Gasbedarfs aus russischen Quellen gedeckt werden. Und umgekehrt kann sich Gazprom den Verlust eines für sich so wichtigen Marktes nicht leisten.
Mit großem Fragezeichen ist auch die Umsetzung des Projektes mit der Bezeichnung Akkuyu, also der Bau eines Atomkraftwerkes in der Südtürkei durch russisches staatliches Unternehmen Rosatom behaftet. Die Türken sprachen noch vor kurzem über Beschleunigung der Arbeiten3, die Russen wollen jetzt das Bauvorhaben „studieren”4, obwohl die Worte des Pressesprechers des Präsidenten, Dmitri Peskow, auch wie gewöhnliche Drohungen gewertet werden können, da ein Verzicht aufs Projekt auch ein Schlag für Rosatom wäre.
4. Schlag gegen den türkischen Touristiksektor. Dieser ist bereits nach den Worten des Außenministers Sergei Lawrow erfolgt, der feststellte, dass sich Russen in der Türkei nicht sicher fühlen können5. Es ist dabei hinzuzufügen, dass russische Touristen in der Gegend des Mittelmeers sehr aktiv sind. 2014 besuchten 4,5 Mio. Russen die Türkei und gaben dort 4 Milliarden Dollar aus6.
5. Reaktionen in der Ukraine. Die Situation in der Ukraine ist nicht stabil, jeden Tag mehren sich Nachrichten über Verschärfung des Feuerwechsels oder Vorbereitung zum Angriff. Die Türken können, im Rahmen einer weiteren Vergeltung, die Krimtataren bei deren Bestrebungen, die Krim der Ukraine zurückzugeben, mutiger unterstützen.
6. Reaktionen in Russland. Die russische Propaganda ist mit Sicherheit vorbereitet, den Russen zu erklären, warum in Syrien zwei Piloten (des Flugzeugs und des angegriffenen Hubschraubers, der am Bergungseinsatz teilnahm) getötet wurden. Eine Wiederholung von Afghanistan ist das, was die russischen Bürger am meisten fürchten und was die Unterstützung für den Einsatz in Syrien und für Putin selbst erheblich senken kann.
7. Platzierung des Systems S-400. Das von Russen positionierte Flugabwehrsystem S-400 umfasst mit seiner Reichweite 70% des syrischen Gebietes und reicht tief ins Gebiet der Türkei, des Libanons und Nordisraels ein. Es wird für den Schutz russischer Flugzeuge verwendet. Die Platzierung dieses technisch fortgeschrittenen Systems wird zur Folge haben, dass die Türken, wenn sie eine russische Maschine abschießen wollen, mit sofortigen Vergeltungsmaßnahmen rechnen müssen. Die Platzierung des Systems wird auch den Amerikanern erschweren, Militäreinsätze vom Flugstützpunkt Incirlik zu fliegen, denn jetzt werden amerikanische Flugzeuge, die von der Türkei in den syrischen Luftraum fliegen, ein potentielles Ziel für verbundene russisch-syrische Flugabwehrsysteme werden.
8. Das NATO-Bündnis platzt aus allen Nähten. 2013 schickte die NATO holländische, deutsche und amerikanische Patriot-Systeme in die Türkei als eine symbolische Geste gegen nicht vorhandene Gefahr aus Syrien. Im Januar 2013 stellte es eine Mitteilung auf seine Homepage: „Die Maßnahmen des Bündnisses sind reiner Abwehrnatur. Sie zeigen die Solidarität mit einem Mitglied des Paktes, das sich gefährdet fühlt. Diese Abwehrmaßnamen haben zum Ziel, zur Deeskalation der entlang der Bündnisgrenzen entstandenen Krise beizutragen”7. Die jetzige Reaktion bei der NATO zeigt, dass das Bündnis nicht geneigt ist, einen Mitgliedstaat, hier die Türkei, zu unterstützen. Zum ersten Mal seit der Beendigung des Kalten Krieges haben wir mit einer Situation zu tun, in der ein der NATO gehörender Staat ein russisches Flugzeug abgeschossen hat. Es sieht so aus, dass den Mitgliedern des Paktes eher auf Spannungsminderung und Risikominimierung in dem syrischen und türkischem Luftraum liegt. Es ist nicht zu erwarten, dass die im August zurückgeholten deutschen und amerikanischen Patriot-Raketen erneut platziert werden sollten8.
Quellen:
1. Two Russian warplanes violated Turkish airspace for 17 seconds: Turkey Source: Hurriyet Daily 25-11-2015
2. Who are the Turkmen in Syria? Source: BBC 24-11-2015
3. Turkey says it will speed up work on nuclear power plant with Russia Source: Hurriyet Daily 16-11-2015
4. Russia will scrutinize all joint projects with Turkey — Kremlin Source: TASS 25-11-2015
5. Lavrov cancels Turkey visit over downing of Russian military jet Source: RT 24-11-2015
6. Turkish tourism to be first victim of Russian jet crisis Source: Today’s Zaman 24-11-2015
7. NATO support to Turkey : Background and timeline Source Nato 19-02-2015
8. US plays politics with Patriot missile removal Source Al Monitor 20-08-2015