Flüchtlinge sind in den letzten Monaten zu Abertausenden nach Europa gekommen. Und es werden mehr kommen. Nach den Zahlen des UNHCR sind weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Von diesen werden einige Millionen es in die EU schaffen. Wie wir in einem früheren Artikel geschrieben haben, ist die Politik der Errichtung einer „Festung Europa“ vollkommen gescheitert. Was wir heute brauchen ist eine vollkommene Neuausrichtung unserer Flüchtlingspolitik auf die Fluchtursachenbekämpfung. Aber das wird die Krise im besten Fall erst mittelfristig abschwächen.
Die momentan prioritäre Frage ist: Wie verhalten wir uns gegenüber den Flüchtlingen, die es bereits in die EU geschafft haben? In Anbetracht der Lage in ihren Herkunftsländern wäre es vollkommen illusorisch davon auszugehen, dass sie nur vorübergehend in Europa blieben und letztendlich nach Hause zurückkehren würden. Wir müssen ihnen eine Perspektive für einen dauerhaften Verbleib in der Europäischen Union einräumen.
Aber ein dauerhafter Verbleib kann ganz unterschiedlich ausgestaltet sein und hängt von dem Grad an Integration ab, den wir (und die Flüchtlinge) für wünschenswert halten. Die Integrationsbandbreite ist dabei immens: Von einem reinen physischen Aufenthalt in besonderen Wohngebieten, ohne oder mit sehr geringen Sprachkenntnissen, in Arbeitsverhältnissen, für die keine Ausbildung erforderlich ist, als neue „Reservearmee der Arbeitslosen“ – bis zu einem Status als gleichberechtigt am sozialen und kulturellen Leben teilhabende Mitbürger, mit Kindern, die perfekt die nationale Sprache sprechen, die entsprechend ihrer Fähigkeiten die beste Bildung und Ausbildung erwerben und als Europäer leben werden wie all die, die schon vor ihnen da waren, von ihnen nur durch die Tatsache unterschieden, dass es noch nicht so lange zurück liegt, dass ihre Eltern nach Europa gekommen sind.
Es ist die Bandbreite zwischen Multi-Kulti und Assimilation, zwischen Ghettoisierung und einer offenen Gesellschaft, die auf der Idee aufbaut, dass alle Menschen gleich sind und die gleichen Chancen im Leben haben sollten. Die Wahl zwischen diesen Optionen ist nicht so offensichtlich, wie sie scheinen mag. Für die Flüchtlinge bedeutet Assimilation die Aufgabe ihrer Sprache und heimischen Kultur, bedeutet akzeptieren zu müssen, dass ihre alte Heimat für die Kinder Ausland wird, dass ihnen die Kultur ihrer Vorfahren fremd werden wird, dass sie jemanden heiraten könnten, mit dem die Eltern nur in einer Sprache reden können, die sie als Erwachsene lernen mussten und die sie eventuell nie beherrschen werden. Inwieweit die aufnehmende Gesellschaft eine Wahlmöglichkeit einräumen kann, hängt auch ab von den Werten, auf denen die aufnehmende Gesellschaft aufgebaut ist. Eine Gesellschaft mit einem geringen Solidaritätsniveau, also ohne ein ausgeprägtes soziales Sicherungssystem und ohne Wehrpflichtigenarmee bzw. obligatorischen Sozialdienst tut sich leichter damit, einen geringeren Integrationsgrad zu akzeptieren. In einer solchen Gesellschaft wird ein Flüchtling, der nicht zurechtkommt, keine besondere Last für die Gesellschaft, endet eben in der Gosse, im Gefängnis oder in Elendsvierteln – wie z.B. in den USA.
In Europa hingegen, wo ein höheres Maß an Solidarität die Gesellschaften prägt, ist ein gescheiterter Flüchtling nicht nur ein polizeiliches Problem, sondern in erster Linie ein soziales. Und Solidarität kann nie eine Einbahnstraße sein. Wenn ein Mitbürger auf die Unterstützung der Gesellschaft in Zeiten der Not zählen kann, muss er/sie auch höhere Ansprüche dieser Gesellschaft an ihn/sie akzeptieren: Höhere Steuern und Sozialbeiträge – und eine Bereitschaft, gemeinsame Werte zu akzeptieren, wozu auch die Bereitschaft zählt, in der Sprache der Gesellschaft mit deren anderen Teilnehmern zu kommunizieren, ihre Kultur zu verstehen und zu akzeptieren. Eine auf Solidarität gegründete Gesellschaft funktioniert nicht, wenn ihre Bevölkerung sich in sprachliche und ethnische Gruppen zersplittert, die nebeneinander her leben und sich nur über die Zugehörigkeit zu diesen Minderheiten definieren. Im Gegenzug muss jedoch die aufnehmende Gesellschaft aber auch bereit sein, diejenigen als vollwertige Mitbürger zu akzeptieren, deren Eltern mit Akzent sprechen. Eine offene Gesellschaft erfordert, dass wir unsere Mitbürger daran erkennen – und damit anerkennen- , dass sie unsere Sprache sprechen, dass es vollkommen unbedeutend ist, wie sie aussehen, wie sie heißen und wo ihre Eltern geboren sind.
In der Nacht des 13. Novembers 2015 wurden viele Menschen in Paris von Terroristen umgebracht. Noch ist nicht klar, wer für diese Verbrechen verantwortlich war. Als Reaktion machte die französische Polizei die Grenzen dicht. Glaubt die französische Regierung wirklich, dass die Mörder aus dem Ausland kamen? Das ist absoluter Blödsinn und ein fortgesetztes Verdrängen der gescheiterten Integration in Frankreich, wo Einwanderer in öde Vorstädte abgeschoben und zusammengepfercht wurden, sie von der französischen Gesellschaft auf Abstand gehalten werden, wo Araber immer Araber bleiben, egal was sie im Leben und für Frankreich erreicht haben, eine Lebenswirklichkeit von Millionen junger Franzosen, die Karim Benzema, französischer Fußballstar und Nationalspieler in den bitteren Worten zusammenfasste: Wenn ich ein Tor schieße, jubeln alle mir zu, wenn ich daneben schieße, bin ich nur der dreckige Araber. Ich gehe jede Wette ein, dass die Mörder Franzosen waren, geboren in Frankreich, aufgewachsen in Frankreich und dort zur Schule gegangen, die sich aber dennoch als Araber und Moslems sahen, weil die Franzosen sie als solche sahen. Es ist das Ergebnis und das Desaster einer Politik und einer Gesellschaft, die in Lippenbekenntnissen den sogenannten Kommunautarismus und Multi-Kulti ablehnen, aber im Alltag strenge Trennungslinien nach der ethnischen Herkunft gezogen haben.
Wie Solidarität ist Assimilation und Integration ein Geben und Nehmen – der Wille, sich zu assimilieren und der Wille, Einwanderer als Eltern und Familien von unseren europäischen Mitbürgern zu akzeptieren. Wenn die beiden Seiten dieser Gleichung diese Ansprüche nicht erfüllen, sind unsere europäischen Gesellschaften einem enormen Spaltungsrisiko ausgesetzt. Multi-Kulti ist nicht der einfache Ausweg aus der gegenwärtigen Flüchtlingskrise, sondern eine kurzsichtige Haltung, hinter der sich lediglich der Unwillen, die Flüchtlinge als neue Mitbürger bei uns und mit uns zu akzeptieren, hinter einer heuchlerischen Attitude der Toleranz kaschiert, ein Vortäuschen der Akzeptanz fremder Kultur in unseren Ländern und bei uns, wo in Wirklichkeit – im besten Fall – Gleichgültigkeit, Ablehnung und – im schlechtesten Fall – Fremdenfeindlichkeit die wahren Motive sind. Es soll überhaupt nicht verhehlt werden, dass Assimilation von den Einwanderern ein riesiges Opfer erfordert; aber das Schlimmste haben sie doch in dem Moment durchgemacht, als sie ihre Heimat verlassen mussten – und Assimilation ist die einzige Möglichkeit für ihre Kinder, wieder eine neue Heimat finden zu können. Eine neue Chance im Leben gibt es nicht ohne einen Preis. Und diesen Preis müssen die aufnehmenden Gesellschaften einfordern, wenn sie als kohärente, auf Ausgleich bedachte und friedliche Gemeinschaft überleben wollen.
Thanks to Harald Greib