Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Deutschland ersetzt die EU durch das Projekt „Mitteleuropa”

Deutschland steigt rein, Frankreich ist raus? Dominanz Deutschlands in Mittel- und auch in… Westeuropa? Reaktivierung des Heiligen Römischen Reiches (Sacrum Imperium Romanum), in dem Sclavinia, Gallia, Roma und Germania dem deutschen Kaiser huldigen, sprich: dem deutschen Kanzler? Die Geburt des Vierten Reiches?

Kaum ist im Ersten Weltkrieg der Rauch von den Schützengräben der Schlachtfelder emporgestiegen, als 1916 das Buch unter dem Titel „Mitteleuropa“1)Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1916, available at Internet Archive, a non-profit library. von Friedrich Naumann2)Friedrich Naumann, Encyclopaedia Britannica. erschienen ist. Der Krieg wurde zwischen damaligen Supermächten: Deutschland, Russland, Österreich-Ungarn, Frankreich und England geführt, um wieder einmal auszutragen, wem Kolonien in Afrika und Asien und auch Gebiete in Europa gehören sollen. Damals hat doch niemand gewusst, wie der Krieg endet: niemand hätte vermutet, dass Österreich-Ungarn von politischen Karten verschwindet oder dass Russland so tiefgehend seine Staatsform verändert. Es wurde eher angenommen, dass jede von den Supermächten gewisse Zugeständnisse machen werden muss und dass die Supermächte nur auf Kosten von kleineren Ländern an Größe gewinnen können. Und wo waren solche Länder zu finden? In Europa – von der Ostsee bis zum Mittelmeer: Kurland (heutzutage: Lettland), Litauen, Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien, Serbien, Bulgarien und noch einige kleine Länder.

Friedrich Naumann kam auf die Idee, wie man Mitteleuropa organisieren soll, oder genauer ausgedrückt, wie man die Dominanz Deutschlands den schon existierenden und den erst entstehenden Staaten aufzwingen soll. Die Idee hat bei den politischen und wirtschaftlichen Führungskräften Beifall gefunden umso mehr, dass Naumann sie mit Argumenten aus der Geschichte, Kultur und Wirtschaft belegt hat.

Argumente aus der Geschichte. Seit dem frühen Mittelalter hat das deutsche Element Gebiete östlich von der Elbe, die Donau entlang sowie die Ostseeküste besiedelt. Die Deutschen haben Städte und Dörfer gegründet, moderne Landwirtschaft, modernes Recht und Handwerk in Polen, Ungarn, Tschechien und in vielen anderen Regionen eingeführt und in Ostpreußen sogar einen unabhängigen Staat gebildet.

Argumente aus der Kultur. Die deutsche Ansiedlung auf diesen Gebieten und Verbreitung der deutschen zivilisatorischen Errungenschaften hatte zu Folge, dass die mitteleuropäischen Länder sich die deutsche Kultur sehr leicht angeeignet haben, was unter anderem dadurch zum Ausdruck kam, dass ausgebildete Menschen von damals mindestens im Stande waren sich auf Deutsch zu verständigen, was nicht belanglos für das besprochene Projekt war.

Argumente aus der Wirtschaft. Sowohl die Länder als auch die Völker Mitteleuropas waren seit Jahrhunderten in hohem Maße vom deutschen Handwerk und Handel abhängig, was unter anderem darin Ausdruck fand, dass übervölkerte mitteleuropäische Gesellschaften, die nicht im Stande waren ihren Bürgern eine Vollbeschäftigung zu garantieren und des Menschenüberflusses loswerden wollten, indem sie die Menschen zur Arbeit nach Deutschland schickten.

Und warum sollte man die Erscheinung nicht weiter fortpflanzen lassen? – fragte sich und seine Landsleute Friedrich Naumann. Die Wirtschaften der mitteleuropäischen Länder sollten am Rande der deutschen Wirtschaft stehen und sie ergänzen, was eigentlich für die beiden Seiten günstig sein sollte. Die deutschen Arbeiter hätten Vollbeschäftigung und würden Güter für die ungesättigten mitteleuropäischen Märkte produzieren; den deutschen Industriellen stünden Ressourcen und Arbeitskräfte der mitteleuropäischen Ländern zur Verfügung, und die Länder Osteuropas würden davon profitieren, dass sie für ihre Agrarprodukte einen Absatzmarkt und für ihre Bevölkerung einen aufnahmefähigen Arbeitsmarkt fänden, wodurch ihr Lebensniveau anstiege.

Der Erste Weltkrieg hatte ein dramatisches Ende: Österreich-Ungarn ist zerfallen, es entstanden viele souveräne Nationalstaaten. Deutschland erlitt eine Niederlage, konnte also die Idee „Mitteleuropa“ nicht verwirklichen. Es wendete also wieder militärische Gewalt an, um durch den Konflikt, der später als der Zweite Weltkrieg bezeichnet wurde, sich in der Welt den Rang einer Supermacht und insbesondere in Mitteleuropa einer dominierenden Macht zu erkämpfen. Der berüchtigte Ribbentrop-Molotov-Pakt von 1939 grenzte die deutschen und russischen Einflussbereiche ab, wobei Mitteleuropa (die baltischen Länder jedoch nicht) unter Kontrolle von Berlin blieb. Der zweite Versuch Deutschlands sich Mitteleuropa zu unterordnen wurde dann durch die Alliierten durchkreuzt.

Deutschland ist dann in kurzer Zeit wieder zu einem Hauptakteur in der Weltwirtschaft und demzufolge auch in der Weltpolitik geworden. Das westlichste Gebiet des ehemaligen Römischen Reiches oder des Dritten Reiches, das mehr als ein Drittel des Gesamtgebietes seiner Vorgänger darstellte, wurde zum wichtigen Mitglied von NATO und der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, der die Europäische Union folgte. Als eine aufkommende Macht konnte Deutschland wieder das Projekt „Mitteleuropa“ wieder beleben, das diesmal unter dem Namen „Ostpolitik“ bekannt wurde. Die Länder Mitteleuropas, die militärisch und wirtschaftlich einem anderen Block angehörten, wurden langsam in den Einflussbereich von Deutschland miteinbezogen, so dass Westdeutschland nach dem Zerfall des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe und des Warschauer Paktes ohne größere Schwierigkeiten Ostdeutschland eingliedern und seine Expansion in Zentraleuropa fortsetzen konnte.

1989 hat Italien, Österreich, Jugoslawien und Ungarn die Zentraleuropäische Initiative gegründet, der sich die Tschechoslowakei (1990) und Polen (1991) angeschlossen haben. Es war eine Gruppierung von sechs relativ großen und bevölkerungsreichen Staaten (daher der Name: die Hexagonale), die sich zum Ziel setzte, sich um Erhaltung ihrer politische Souveränität zu bemühen und die Dominanz Deutschlands zu widersetzen. Berlin hat darauf schnell reagiert.

Die Tschechoslowakei ist 1992 zerfallen und Jugoslawien wurde anschließend einige Jahre lang von blutigen Bürgerkriegen zerrissen und eben Deutschland hat als erster Staat die Souveränität von Slowenien und Kroatien anerkannt. Dies bedeutete aber nicht den Schluss der Hexagonale, jedoch anstelle von den relativ starken Staaten, tauchten die kleinen und schwachen auf: Tschechien ohne die Slowakei, die Slowakei ohne Tschechien, Kroatien und Slowenien ohne das, was von Jugoslawien übrig geblieben ist; die Hexagonale an sich ist größer geworden und die höhere Zahl ihrer Mitgliedstaaten hatte den gemeinsamen Kurs schlecht beeinflusst: es wurde schwieriger bei immer mehr auseinanderklaffenden Zielen die Politik gemeinsam festzulegen und gleichzeitig konnte man leichter zum Opfer des aufgefrischten Projektes „Mitteleuropa“ werden, um so mehr, dass einige Mitglieder der Hexagonale den durch die Deutschen kontrollierten Euro eingeführt haben.

Deutschland erreichte so eine beherrschende Stellung in der Wirtschaft. Die Analyse des Import- und Exportvolumens zwischen den mitteleuropäischen Ländern und Deutschland im Vergleich zu dem Volumen mit Frankreich, der zweitgrößten Stütze der EU, gibt zu denken.

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Daten aus Global Edge für das Jahr 2015.3)Global Edge.

Aus dem Schaubild geht hervor, dass nicht nur die mitteleuropäischen, sondern auch die westeuropäischen Länder ein deutlich höheres Import- und Exportvolumen mit Deutschland als mit Frankreich haben und es betrifft auch die nächsten Nachbarn Frankreichs: Großbritannien, Belgien und Italien, mit Ausnahme von Spanien und (gerade noch)Portugal, aber nur wenn es um das Exportvolumen geht.

Die wirtschaftliche Macht findet meistens ihre Widerspiegelung in der Politik. Es sollte also niemand überraschen, dass der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski 2011 in seiner Ansprache, und sein niederländischer Amtskollege Bert Koenders einige Jahre später (2016) bei einer Zusammenkunft auf der Universität Leiden, Deutschland aufgerufen haben die Führung in Europa zu übernehmen, um es zu retten.

Ich appelliere an die Deutschen – uns und euch zugute – helft der Europäischen Union überleben und sie erhalten. Euch ist es doch bewusst – niemand kann es besser machen. Ich bin wahrscheinlich der erste polnische Außenminister, der das sagt, aber hier ist es: ich habe weniger Angst vor deutscher Macht, als ich anfange, mich vor deutscher Inaktivität zu fürchten. Die Deutschen sind für Europa ein unentbehrliches Volk geworden. Ihr könnt es nicht zulassen, eure Schlüsselrolle in der EU zu verlieren. Ihr dürft nicht dominieren, ihr habt aber Recht bei Reformen vorzuherrschen. Wenn Polen einbezogen wird, wird es Deutschland unterstützen“, sagte der eine von den oben genannten4)Ministry of Foreign Affairs, Republic of Poland, “Poland and the future of the European Union”, Mr Radek Sikorski, Foreign Minister of Poland, Berlin, 28 November 2011.. Der andere dagegen:

Ein intensives Engagement der USA in die Sicherheit Europas kann seit langem nicht mehr gesichert werden, die Niederlanden sind also wie nie zuvor an starkem Deutschland interessiert. […] Ich würde also sagen, dass die Niederlanden ausgerechnet Deutschland helfen sollen, die Verantwortung für seine führende Rolle in der EU zu übernehmen. […] Für die Niederlanden galt es immer als besonders wichtig, dass das Gleichgewicht zwischen den Mächten eben von den Angelsachsen aufrechterhalten wird.5)A strong Germany is in the Netherlands’ best interests, says Dutch foreign minister, Dutch News.nl 2016-11-22.

Es scheint, als wären die Deutschen kurz davor ihr altes Projekt wiederaufzunehmen, diesmal aber jedoch mit friedlichen Mitteln. Dass Deutschland sein Einflussbereich auf Mitteleuropa erweitert hat, wundert nicht so sehr wie die Tatsache, dass sogar ein westeuropäisches Land dazu neigt, sich eher dem Willen von Berlin als dem Willen von Paris zuzuordnen. Wie wird die französische Führungsschicht darauf reagieren? Kaum zu erwarten, dass sie das akzeptiert. Denn die Franzosen hatten Deutschland aufgefordert die gemeinsame Währung einzuführen, mit der Hoffnung dadurch die deutsche Wirtschaft zu zügeln und sie über die internationale (d.h. die französische) Kontrolle zu übernehmen. Wie sich aber herausgestellt hat: der Euro hat den deutschen, und nicht etwa den französischen Geschäften wohlgetan; und zur Krönung des Ganzen: Deutschland hat Frankreich nicht nur vom Mittel-, sondern auch von Westeuropa verdrängt.

References   [ + ]

1. Friedrich Naumann, Mitteleuropa, Berlin 1916, available at Internet Archive, a non-profit library.
2. Friedrich Naumann, Encyclopaedia Britannica.
3. Global Edge.
4. Ministry of Foreign Affairs, Republic of Poland, “Poland and the future of the European Union”, Mr Radek Sikorski, Foreign Minister of Poland, Berlin, 28 November 2011.
5. A strong Germany is in the Netherlands’ best interests, says Dutch foreign minister, Dutch News.nl 2016-11-22.

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