Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Patchwork-Familie, Patchwork-Tradition, Patchwork-Religion, Patchwork-Staat, Patchwork-Rasse: alles Patchwork.

Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern. (Karl Marx)
Durch die Verbindung von Marx und Freud wurden die Forscher der Frankfurter Schule zu den einflussreichsten Denkern des 20. Jahrhunderts.1)The Frankfurt school, part 1: why did Anders Breivik fear them? The Guardian 2013-03-25.

Der Traum von Marx war die Transformation der kapitalistischen Gesellschaft. Sein Traum inspirierte Scharen von Intellektuellen. Einige von ihnen erarbeiteten ihre eigenen Vorschläge zur Verwirklichung der Postulate des Marxismus. Ein solcher Vorschlag, der vor allem im späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts als attraktiv empfunden wurde, war der Kommunismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es offensichtlich, dass der in kommunistischen Ländern umgesetzte Marxismus, nicht nur bei der Umwandlung der Gesellschaften scheiterte, sondern auch noch ihren wirtschaftlichen Niedergang herbeiführte, während der wachsende Wohlstand in den westlichen Ländern die Ansichten der Arbeiterklasse milderte. Neomarxisten wurde bewusst, dass die Arbeitnehmer in den westlichen Gesellschaften keine revolutionäre Kraft mehr sind, und dass die Zeit kam, nach einem neuen Proletariat zu suchen. Die Vision, eine neue Gesellschaft mit einem neuen Bewusstsein zu schaffen, wartete immer noch auf ihre Umsetzung.
Der Wunsch, weiterhin an der Umwandlung der Gesellschaft zu arbeiten, wurde unter anderem von Forschern der sogenannten Frankfurter Schule übernommen. Eines der Ziele der Schule, das von Max Horkheimer definiert wurde, war Kritik und eine echte Umgestaltung der ganzen Gesellschaft durch die Befreiung des Volkes durch die neuen revolutionären Kräfte von allem, was die Menschen versklavt. Transformation der Gesellschaft als Ziel der Handlungen, und nicht als Objekt der philosophischen Reflexion, sollte dieses Mal durch die Kombination des Marxismus und der Psychoanalyse realisiert werden. Daran sollten nach Horkheimer Philosophen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Psychologen zusammenarbeiten. Arbeitsmethoden für die Zusammenarbeit sollten auf der Kritischen Theorie stützen.
Die Frankfurter Schule und die von ihr entwickelte Kritische Theorie war natürlich nicht die einzige Konzeption, die auf die Einstellungen und Entscheidungen der Intellektuellen, Politiker und auf gewöhnliche Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts einen Einfluss hatte. Als ein breites interdisziplinäres Projekt war sie auch nicht ganz einheitlich. Ihre Ursprünge reichen zurück bis Frankfurt der Vorkriegszeit, und ihre späteren Vertreter, die aus Deutschland vor dem Krieg vertrieben wurden, schufen bereits in den Vereinigten Staaten. Als ihre wichtigsten Vertreter werden meistens: Theodor Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Herbert Marcuse, Friedrich Pollock, Erich Fromm, und später auch Jürgen Habermas und Alfred Schmidt genannt. Zu den bekanntesten Werken der Schule gehören: Autoritäre Persönlichkeit, an der Theodor Adorno mitwirkte, Dialektik der Aufklärung, von Adorno und Horkheimer gemeinsam verfasst, Dämmerung (The Eclipse of Reason) von Max Horkheimer; Eros und Zivilisation und Der eindimensionale Mensch von Herbert Marcuse (den Einfluss der Gelehrten der Frankfurter Schule widerspiegelt am besten die Tatsache, dass der Name von Marcuse in eine beliebten Spruch der Jugendlichen in den sechziger Jahren übernommen wurde: “Marx, Mao, Marcuse”, und dass sein Buch Eros und Zivilisation die Studentenrevolte von ’68 prägte), sowie auch Weg zu einer rationalen Gesellschaft und die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas. Die Postulate der Schule beeinflussten auch György Lukács und Antonio Gramsci mit seiner Theorie der kulturellen Hegemonie.

Welche Aspekte der Gesellschaft wurden der Kritik unterzogen? Welche Richtung der Veränderungen wurde durch die kritische Theorie vorgeschlagen? Welche Ziele wurden erreicht?

Der neue Vorschlag des radikalen sozialen Wandels bezieht sich nicht mehr auf die wirtschaftliche Vorherrschaft einer Gruppe über eine andere, sondern auf die offensichtlichen oder versteckten Machtverhältnisse in natürlichen Gruppen: unter den Familienmitgliedern, zwischen den Geschlechtern, zwischen den ethnischen Gruppen, sowie auf die Dominanz der Ideologie, Religion und Traditionen über die einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft. “Jedes soziale Phänomen unterliegt einer kritischen Prüfung; jedes Phänomen sollte in Frage gestellt werden, und nicht als ein vorhandener, unbestrittener Teil der Realität angesehen werden.”

Womit sollen das Anzweifeln und die Kritik beginnen? Wir – wie die Vertreter der Frankfurter Schule behaupten – leben in der autoritären Gesellschaft, wo die Regeln der früheren Generationen eigentlich unter Zwang beigebracht werden, versteckt unter verschiedenen Symbolen, in der Sprache, in erstarrten Verhaltensweisen. Zuerst muss das Bedürfnis geschaffen werden, kritisch denken zu können, nicht nur an Oberflächliches, sondern auch an Grundsatzfragen, die Grundlagen der Gesellschaft betreffen. Beiläufig nach den offensichtlichsten Konzepten und Sitten zu fragen, die tief verwurzelten Bildern und Assoziationen in Literatur und Kunst umtauschen – so werden die Beziehungen in den oben genannten natürlichen Gruppen angegriffen und die Gruppen kaputtgemacht, das traditionelle Denken verändert. So kommt die erwünschte Umwandlung der Gesellschaft und die Befreiung von der Hegemonie des Verborgenen zustande, das nach Ansicht von Gramsci, auch in der Sprache inhärent ist, die dazu dient, Machtverhältnisse zu verstecken und mit der die Machtverhältnisse auch entlarvt werden sollten. Habermas behauptete auch, dass die Sprache ein Werkzeug der Dominanz und sozialen Gewalt ist. Sie dient dazu, die organisierte Macht zu legitimieren. Daher ist es notwendig, die Sprache und Konzepte zu ändern. Die Wahrheit ist kein Bestandteil der uns umgebenden Welt, sie ist ein Teil der verwendeten Sprache. Wenn wir die Sprache ändern würden, würde sich auch die Gesellschaft ändern, weil die Strukturen der Macht umstürzen würden.
Wir leben in einer hierarchischen Gesellschaft, in der wir den Kampf um die Herrschaft über andere führen. Selbst die Definitionen der sozialen Funktionen und Rollen an sich, z.B. Elternteil-Kind, Lehrer-Schüler, die Name der Geschlechter, drücken Machtverhältnisse aus. Wir müssen uns daher gegen jede Hierarchie wenden und Schwerpunkt auf horizontale Beziehungen, auf Kollegialität, Mitwirkung, Mitverantwortung verlagern. Als die erste Hierarchie wird die elterliche Autorität angeprangert, die zusammen mit den konservativen Erziehungsmethoden, nach Worten von Theodor Adorno und seinen Koautoren Der autoritären Persönlichkeit, zur Ausbildung einer Persönlichkeit führt, die anfällig für Propaganda ist, zur Feindschaft gegen ethnische Minderheiten neigt und solche Minderheiten als gefährlich empfindet. Dieser Prozess erfolgt durch die Übertragung der Aggression von einem autoritären Elternteil, gegenüber dem die Aggression verboten ist, auf eine Person, gegenüber der man Aggression scheinbar sicher zum Ausdruck bringen kann. Das Ergebnis solcher Erfahrungen in der Kindheit ist die Verstärkung solcher Haltungen wie Ethnozentrismus und Antisemitismus. Solche Haltungen können nur durch eine tiefe Transformation der Persönlichkeit ausgerottet werden, am besten weit weg von dem Einfluss der Familie. Überarbeitet sollte die Sprache der Familienbeziehungen werden, von der positive Bezugnahmen auf die Hierarchie in der Familie verschwinden sollten, darunter der Begriff des Familienoberhaupts, Klischees über die Rollen in der Familie, über die Verteilung der Arbeit, über die Abhängigkeit der Kinder von ihren Eltern zugunsten ihrer Partnerschaft.

Wir leben in einer repressiven Gesellschaft, in der wir unsere Bedürfnisse aufopfern, unsere Wünsche verbergen, unser Libido sublimieren müssen. Die menschliche Sexualität sollte befreit werden, der Mensch sollte seine Bedürfnisse befriedigen lassen, ohne dass er sich dabei schuldig fühlt. Niemand sollte gezwungen werden, gegen sich selbst zu leben, um bloß Aberglauben walten lassen. Das Glück darf niemand weggenommen werden, nur weil irgendwelche repressive Religion so sagt. Die Dominanzverhältnisse zwischen den Geschlechtern sollten auch einer weitgehenden Transformation der kritischen Theorie unterzogen werden. Die in der Gesellschaft präsenten Stereotype über das schwache Geschlecht, über die Unterwerfung der Frauen den Männern, über die Rollen der Geschlechter müssen sich zugunsten der Gleichstellung der Geschlechter, der Gleichberechtigung, der Förderung der Paritäten verändert werden. Das Geschlecht darf nicht mit irgendwelchen beständigen Eigenschaften in Verbindung gebracht werden, daher muss unser Bewusstsein von den durch die Sprache eingeprägten Assoziierungen bereinigt werden.

Wir leben in einer geschlossenen Gesellschaft, in der wir unsere Identität auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und auf dem Ausschluss aus einer anderen Gruppe aufbauen. Die Sprache verstärkt das Gefühl der Isolation. Daher sollte durch die Änderung der Sprache eine offene Gesellschaft geschaffen werden. Die Transformation der Gesellschaft darf jedoch nicht ohne Tradition passieren. Alles, was mit festen Sitten und Bräuchen, mit unserem Kulturkreis zu tun hat, soll angezweifelt, die Aufgeschlossenheit fremden Bräuchen und Traditionen gegenüber dagegen gefördert werden. Es geht doch nicht darum, andere Kulturen zu schätzen beginnen, weil sie sowieso später ebenfalls zum Opfer der Umwandlung werden, sondern darum, eine neue Gesellschaft mit einer eigenen und einzigartigen Denkweise zu schaffen. Zwangsläufig bedeutet dies ein hartes Vorgehen gegen die religiösen Überzeugungen, weil sie durch Mythen und Assoziierungen die in der Gesellschaft etablierten Machtverhältnisse verstärken und der Hegemonie eine übernatürliche Begründung verleihen. Ohne die Religion in Frage zu stellen, ist es also nicht möglich, die Gesellschaft umzuwandeln. Religion befreit den Menschen nicht, es ist nur ein Werkzeug seiner Unterdrückung. Allerdings scheint sie ein fester Bestandteil des menschlichen Bewusstseins zu sein, so dass, wenn sie nicht ausgerottet werden kann, mindestens ihr Einfluss begrenzt werden soll, indem man darauf hindeutet, dass einzelne Religionen nur auf verschiedene Art und Weise zum selben Glück führen. Auf der Suche nach dem Glück sollte der Schwerpunkt vom Dienst an Gott zum Dienst an Menschen verschoben werden, damit die Religion von ihren versteckten, übernatürlichen Hegemonien losgelöst wird. Kirchen sollten sich nun nur für karitative Aktivitäten engagieren. Konzentrieren wir uns nur auf die positiven Emotionen in der religiösen Erfahrung, auf den Charity-Aspekt der religiösen Gruppen. Der einzige Weg zur Befreiung der Menschheit ist nach Marcuse die polymorphe Sexualität.

Wir leben in einer Gesellschaft, die sich von den anderen abtrennt. Die Generationen von Marxisten haben versucht, Nationen zu zerstören und die Internationalen zu fördern. Erinnern wir uns hier nicht nur an die Komintern, das Kominform, sondern auch an Altiero Spinellis Manifest von Ventotene, in dem steht, dass “der Nationalstaat die größte Bedrohung für den Weltfrieden ist.” Daraus ergibt sich die Zurückhaltung dem Nationalstaat gegenüber, die Vorliebe für kleine lokale Heimaten, Förderung der Ehen zwischen Angehörigen verschiedener Nationen, Kulturen und Rassen.

Schließlich sind wir alle gleich. Es gibt wirklich keinen Unterschied zwischen uns, es gibt nur eine Rasse – die menschliche Rasse. Wir sprechen hier nicht über Nationen, sie sind nicht mehr relevant in der Ära der Globalisierung. Die Einteilung in Rassen wurde uns künstlich aufgezwungen, was zu Konflikten und Kriegen führte. Wenn niemand mehr sich mit seiner Gruppe verbunden fühlt, ist auch die Ursache aller Konflikte weg. Die Himmelsrichtungen sind nun ein Beweis für das Verachten und die Dominanz einer Gruppe der Nationen oder Länder über die anderen. Bindung an Nationalität hat nur wirtschaftliche und kulturelle Ungleichheiten zwischen den Nationen zur Folge. Stell dir eine Welt ohne Familie, ohne die alten Bindungen, ohne Tradition, ohne Religion, ohne Nationen vor. Stell dir die Welt mit über-, zwischen-, trans- vor. Zuerst muss die vorherige Struktur abgerissen, in Partikeln aufgelöst werden, um etwas qualitativ Neues zu schaffen. In einer Welt, in der jeder entfremdet ist, gibt es keinen Platz für Entfremdung.

Wie groß ist der Einflussbereich der Kritischen Theorie? Welche Ziele wurden von anderen Schulen, Theorien, Trends realisiert, die sich zum Marxismus bekennen? Studentenrevolte, sexuelle Befreiung, Verfall der Autoritäten, politische Korrektheit, Postkolonialismus, Gender, Feminismus, Globalisierung. Patchwork-Familie. Patchwork-Tradition. Patchwork-Religion. Patchwork-Staat. Patchwork-Rasse. Natürlich bei so weit angelegten Projekten zur Gesellschaftsumwandlung werden nicht alle Ideen im Einklang stehen, nicht alle verwirklicht. Einige klingen ja auch ganz vernünftig, einige sind nur ein Nebeneffekt der technologischen Entwicklung. Doch mit allerlei Vielfalt der verschiedenen Instrumente und Methoden, der Persönlichkeit der Forscher, die des Öfteren ihre Meinung wechselten oder sich von ihren eigenen Errungenschaften distanzierten (Marcuse behauptete schließlich, dass die Studentenproteste wie die verwelkten Blumen seien) so scheint es, dass in der Tat langsam, ohne körperliche Auseinandersetzungen und Gewalt, ohne Diktatoren, Lager und Gefängnisse für Abweichler (es stellte sich heraus, Spott sei die beste Waffe) die ersehnte Umwandlung des Bewusstseins der Gesellschaften Wirklichkeit wurde.

Bibliographie
Adorno Theodor et al., Die autoritäre Persönlichkeit;
Adorno Theodor, Horkheimer Max, Die Dialektik der Aufklärung;
Fromm Erich (1994), Liebe, Sexualität und Matriarchat;
Habermas Jürgen (1967), Toward a Rational Society;
Horkheimer Max, Dämmerung;
Marcuse Herbert, Eros und die Zivilisation;
Marcuse Herbert, Der eindimensionale Mensch;
Walentowicz Halina, Das Programm der Kritischen Theorie von Max Horkheimer;
Wodak Ruth (2008), Critical Discourse Analysis: History, Agenda, Theory, and Methodology.

References   [ + ]

1. The Frankfurt school, part 1: why did Anders Breivik fear them? The Guardian 2013-03-25.

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