Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Der Zusammenbruch der Mittelschicht im Westen leitet das Ende des politischen Zentrismus ein. Welche Zukunft hat die Demokratie?

Schon Aristoteles bemerkte, dass eine starke Mittelschicht das Rückgrat der gut funktionierenden Demokratie sei: “Der Staat, der auf der Mittelschicht fußt, ist genug entfernt von zwei Extremen: der Regierung der Reichen und der Regierung der Armen. Da, wo die Mittelschicht zahlreich ist, da spaltet sich das Volk nur selten in die sich bekämpfenden Parteien.”1)Politics IV.11.1296a7–9Menschen, deren Einkommen ausreichen, um einen bescheidenen Unterhalt zu sichern, „unterordnen sich am schnellsten den vernünftigen Regeln”.2) IV.11.1295b4–63)Aristole’s political theory, Stanford Encyclopedia of Philosophy 2011-01-26.Wenn wir also von der Mittelschicht sprechen, wird ein Median der Gesellschaft gemeint, also die zahlreichste Gruppe mit einem ähnlichen Einkommen. Zur Veranschaulichung: wenn in einer Gruppe von 2000 Menschen 500 1000€ verdienen, 1400 -2000€, und 100 -10 000€ pro Monat, dann bilden eben die 1400 Menschen ”die Mittelschicht”.

Eine starke und gut ausgebildete Mittelschicht ist der beste Schutz vor dem Extremismus. Ganesh Sitaraman von der Universität Vanderbilt behauptet, dass: “Seit Anbeginn der Zeit Staatsleute und Denker die Frage der wirtschaftlichen Ungleichheit reflektierten, die Ursache dafür ist, dass entweder die Reichen die Armen unterdrückten, oder die Armen versuchten, den Reichen ihr Reichtum wegzunehmen, was zur Gewalt, zu Unruhen, ja zum sozialen Umsturz führte.”4)The Crisis of the Middle-Class Constitution, Ganesh Sitaraman 2017-03-14Zwischen 2011 und 2013 arbeitete Sitaraman für Elizabeth Warren, die amerikanische Senatorin der Demokratischen Partei. Hätten die Demokraten auf ihn gehört und die Entwicklungen in der Gesellschaft wahrgenommen, hätte Hillary Clinton sein Buch “What Happened” nicht schreiben müssen, in dem sie ihre Niederlage in den Wahlen zu erklären versuchte.

Die Mittelschicht im Westen ist für den politischen Zentrismus unentbehrlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte Westeuropa eine Periode immensen Wachstums. Je stärker die Mittelschicht wurde, desto kleiner wurde der Einfluss der extremen politischen Gruppierungen. Bis zu den 90-ern wurden die faschistischen und kommunistischen Bewegungen ganz marginalisiert. Die Mitte-Rechts-„Liberalen” und die Mitte-Links-„Sozialdemokraten” näherten sich immer mehr aneinander, um sich bei der großen, gemäßigten Wählerschaft, der Mittelschicht, beliebt zu machen. Als die Wirtschaftsfragen in der politischen Debatte zunehmend an Bedeutung verlieren, zogen die sozialen Fragen, seien es Rechte der Homosexuellen oder Klimaschutz, Aufmerksamkeit auf sich. Die Parteien der Mitte glichen sich dermaßen an, dass Wähler sie nicht mehr unterscheiden konnten.

Doch in den 90-er Jahren setzte die Globalisierung an, dem freier Kapitalverkehr, Produktionsverlagerung und (doch in geringerem Ausmaß) soziale Mobilität zugrunde lagen. Infolge der Mobilität des Kapitals kam es zur Finanzkrise, und mit der Migration entstanden Ghettos. Kriminalität und Terrorismus verbreiteten sich. Nur wenige bemerkten zu Recht, dass die Globalisierung ihren Stempel auch auf der Mittelschicht so deutlich aufdrückte. Sie begann zu schrumpfen und die Eliten sowie die Mittelschicht der Schwellenländer profitierten davon.

Hätte man inzwischen die Forschungen von Doktor Milanovic nicht außer Acht gelassen, die Ungleichheiten thematisierten, hätte man vorhersehen können, was auf uns zukommt. Seit 2000 wurde die Opposition immer stärker, doch nicht stark genug, um die politischen Ereignisse beeinflussen zu können.

 

 

Nach gut über einem Jahrzehnt kam es zu einem Knall:Donald Trump gewann in den Wahlen in Amerika mit seinen Slogans über Wirtschaft und Patriotismus, unterdessen musste Hillary Clinton auf der linken Seite der politischen Bühne gegen den Sozialisten Sanders kämpfen. In Großbritannien versucht Theresa May (eher ohne Erfolg) die Haltung von Donald Trump nachzuahmen, was im Widerspruch zum traditionellen Programm von Tories steht, während Sozialist Jeremy Cobryn es schaffte, die Mitte-Epigonen von Blair aus der Führung der Arbeiterpartei loszuwerden. In Frankreich gewann zwar ein Zentrist – Emmanuel Macron – doch die extremen Parteien (rechts- und linksorientierten insgesamt) gewannen 2012 um 31% mehr Stimmen im ersten, 0% Stimmen im zweiten Wahlgang. 2017 waren es schon um 50% Stimmen mehr im ersten und um 34% im zweiten Wahlgang. Die Hälfte der Bürger ist unzufrieden und nur ihre Unentschiedenheit, für welches Extrem sie sich entscheiden sollen, hält die Mitte am Leben. Ebenso geht es in Italien und Frankreich, wo die Link-Mitte- und Rechts-Mitte-Parteien, die sich einst einer bis zu 80%-igen Popularität erfreute, können nun auf die Hälfte der Stimmen zählen. Deutschland scheint dabei relativ stabil zu sein, doch wenn die Extremisten sich vereinen, können sie auch da künftig zweimal besser abschneiden.

Nach 2000 Jahren ist die Theorie von Aristoteles immer noch aktuell: die Wähler aus der Mittelschicht sind am gemäßigtsten;da aber die Schicht schrumpft, wird das die Wahlergebnisse früher oder später nachhaltig beeinflussen.Das Wohlergehen der Mittelschicht ist eine Grundvoraussetzung für das Bestehen des Zentrismus.

“Der Populismus” gewann überall an Boden

Wenn unser Gedankengang korrekt ist, gibt es nur einen Ratschlag gegen „die Blütezeit des Populismus”, den manche Angehörige der verkümmerten Mittelschicht populär machen: „Lassen wir uns die Mittelschicht wieder stark werden”. Der heute so populäre Spruch soll niemand wundern, ob er aber zu verwirklichen sei? Auf dem Spiel steht doch das Überleben der liberalen Eliten, die in den letzten 70 Jahren im Mittelpunkt der politischen Bühne standen. Schauen wir uns bloß ihre Reaktionen auf „Fake”-News an: sie wüten sich darüber, gleichzeitig dreschen sie aber Phrasen über die postfaktische Politikund nutzen sie aus, um ihren Gegnern mittels Zensur einen Maulkorb zu verpassen. Ist das politisch korrekt? Die Antwort ist natürlich: „Nein”. Doch die Eliten müssen den nachteiligen Prozess wahrnehmen – der Zusammenbruch der Mittelschicht passiert tatsächlich und ist unaufhaltsam, solange Globalisierung andauert. Warum? Wenn wir dem Gedankengang von Aristoteles folgen: politische Repressionen bedeuten, dass wir Richtung der Oligarchie-Phase gehen, sprich der Regierung der Reichen, die einen Weg für die Revolution ebnen würde.

Warum sind die Eliten nicht im Stande die Mittelschicht wiederherzustellen und auf diese Weise die Demokratie zu retten? Ihre Angehörigen sind offensichtlich gut ausgebildet, lasen mal Aristoteles. Lagarde (vom IWF) zeigte sich 2017 in Davos (der größten Zusammenkunft der Eliten) über die sich verschlechternde Lage der Mittelschicht beunruhigt,5)Middle classes in crisis, IMF’s Christine Lagarde tells Davos 2017, The Guardian 2018-01-18.was beweist, dass die Mächtigen den Stand der Dinge zur Kenntnis nehmen. Lagarde rief auch zu irgendeiner Ausgleichung für diejenigen auf, die infolge der Globalisierung leiden. Warum kommt es nicht zu der Ausgleichung? Die Antwort lautet wiederum: wegen der Globalisierung.

Die Globalisierung ist nämlich die Ideologie der Eliten, an die sie bedenkenlos anklammerten und die Mittelschicht im Westen verachten – wichtiger ist doch ihnen die ganze Welt. Die Eliten fühlen sich mit ihrem Vaterland nicht verbunden; ihre Angehörigen haben des Öfteren einen Doppelpass und heiraten international. Von ihnen sind Antworten zu hören: „Der Westen? Was ist das denn eigentlich? Das globale Bruttoinlandsprodukt steigt doch!” oder “DieglobaleMittelschicht wächst doch!” Sie machen sich keine Sorgen darum, dass sie auf das Grundgesetz oder auf die Bibel schworen, dass sie dem Volk dienen werden. Ihnen gefällt der Spruch von Trump “Zuerst Amerika” nicht. Da stellt sich die Frage, wann diese mangelnde Loyalität zu seinem Land mal alsein Verratinterpretiert wird. Darum machen sie sich auch keine Sorgen. Obwohl die globalen Eliten zu einem Idol auf tönernen Füßen wurden, da ihre ideologischen Grundlagen ins Wanken geraten, bevorzugen sie weiterhin solche Ideen wie die “Mannigfaltigkeit” oder “Gender” durchzusetzen.

Im Prozess der Globalisierung wird es zu keiner “Ausgleichung für Verlorene” kommen, und wenn auch, dann wird sie sicherlich nicht für Millionen von der Mittelschicht zufriedenstellend sein.Keine von den Mitte-Parteien setzt sich solche Ausgleichung zum Ziel. Sonst müssten Einkommen- und Vermögenssteuern für die besser situierten Bürger erhöht werden. Die daraus gewonnen Gelder würden doch sowieso in weit entfernten Steueroasen landen, da wo der Staat nicht eingreifen dürfte.6)One-Tenth Of Global GDP Is Now Held In Offshore Tax Havens, Zero Hedge 2017-09-18.Glaubt jemand, dass die von der Globalisierung profitierenden Eliten im Westen ihr Vermögen, das sie auf der anderen Seite des Ozeans versteckten, freiwillig zurück in ihre Länder holen und sich selbst versteuern würden?

Obwohl die Existenz des liberalen Machtzentrums von der Mittelschicht abhängig ist, denken die liberalen Eliten nicht einmal daran, diese Bevölkerungsschicht zu retten. Sie vertreten eher eine Haltung, die eine Mischung aus Autarkie, Verachtung und Böswilligkeit ist: sie wollen das System nicht ändern, das sie begünstigt.

Wenn wir in unserem Gedankengang weiter Aristoteles folgen, dann ist es festzustellen, dass eine Revolution unausweichlich ist. Damit die Demokratie überleben kann, müssen die Gewinner der Revolution das machen, was die Eliten von heute nicht wollen: die Mittelschicht retten. Sonst kommen entweder die Zeiten der Oligarchie oder der Gewaltherrschaft der Armen.

References   [ + ]

1. Politics IV.11.1296a7–9
2. IV.11.1295b4–6
3. Aristole’s political theory, Stanford Encyclopedia of Philosophy 2011-01-26.
4. The Crisis of the Middle-Class Constitution, Ganesh Sitaraman 2017-03-14
5. Middle classes in crisis, IMF’s Christine Lagarde tells Davos 2017, The Guardian 2018-01-18.
6. One-Tenth Of Global GDP Is Now Held In Offshore Tax Havens, Zero Hedge 2017-09-18.

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