Das Abkommen zwischen Ankara und Moskau wurde unterzeichnet und besiegelt, und die ersten Lieferungen des S-400-Luftverteidigungssystems sind gerade auf dem türkischen Boden in einem Militärflughafen in der Nähe der Landeshauptstadt gelandet. Die zweitgrößte NATO-Armee erwirbt Waffen und Munition von einem Staat, den die Organisation des Nordatlantikvertrags als feindlich einstuft.
Türkei besetzt ein Gebiet, das Europa mit Asien verbindet und ist Nachbar einiger vom Krieg heimgesuchter Länder wie Irak und Syrien in der volatilen Region, die als der Nahe Osten bezeichnet wird. Das Land ist auch für die NATO von strategischer Bedeutung, weil es die Meerenge zwischen Mittelmeer und Schwarzem Meer kontrolliert und ihre südliche Flanke gegen Russland ist. Türkei – ein NATO-Mitglied seit 1952, auch wenn sie als ein Land der Dritten Welt angesehen wird – wollte ein loyales Mitglied des Bündnisses mit immer engeren Beziehungen zur westlichen Welt bleiben. Ankara schloss sich nicht nur der NATO an, sondern stellte auch sein Territorium dem Pakt zur Verfügung. Der Leser wird sich daran erinnern, dass es eben die auf türkischem Territorium stationierten amerikanischen Raketen waren, die im Kreml für Besorgnis sorgten und Nikita Chruschtschow zur Vergeltung veranlassten, als er sowjetische Raketen nach Kuba entsandte, was mit einem internationalen Konflikt drohte, der sich zum dritten Weltkrieg zuspitzen konnte. Die angespannten Beziehungen zwischen den beiden Supermächten wurden erst gelockert, als beide Länder, Sowjets ihre Raketen von der größten Insel in der Karibik und Amerikaner ihre aus der Türkei, zurückgezogen haben.
Die Mitgliedschaft der Türkei in der Allianz hat nie bedeutet, dass Ankara ein Einfaltspinsel in Washingtons Händen war. Sie hat gekonnt ihre Souveränität bewahrt und ihre eigenen Interessen verfolgt. So landeten 1974 türkische Streitkräfte in Nordzypern und gründeten dort ihren eigenen türkischen Staat und teilten auf die Dauer die vorwiegend von Griechen bewohnte Insel. So wagte sich Ankara, sich gegen Interessen eines anderen NATO-Mitglieds – Griechenlands – zu wenden, und Athen konnte nichts dagegen tun. Die Türkei war einfach strategisch zu wichtig, und deshalb konnte sie es sich leisten, unabhängig von den wichtigsten NATO-Verbündeten zu handeln.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verschlechterte sich die strategische Position des Landes, vor allem in den neunziger Jahren in der Jelzin-Ära. Die postsowjetischen Republiken befanden sich in politischen oder wirtschaftlichen Schwierigkeiten, und Russland schien sich weiter aufzulösen. Die Vereinigten Staaten blieben die einzige globale Supermacht, da China zu dieser Zeit noch nicht so stark war. In den 2000er Jahren änderte sich alles allmählich, als Wladimir Putin zu regieren begann und Russlands Abwärtsspirale umkehrte. Die strategische Bedeutung der Türkei gewann erneut an Wert, ganz zu schweigen von der Zusammenarbeit, die Washington während der Kampfhandlungen gegen den Irak benötigte.
Ankara versuchte, ihre Bindungen zum Westen zu stärken, indem sie auch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union beantragte. Zu diesem Zweck fanden zwar mehrere Gesprächsrunden statt, alle blieben jedoch erfolglos. Die türkischen Entscheidungsträger müssen sich danach ausgenutzt und missbraucht gefühlt haben. Ihr Land war gut genug, um als ein militärischer Brückenkopf in der Region zu dienen, was im amerikanischen Interesse lag, oder als Barriere, um die übermäßige Zahl der sogenannten Flüchtlinge vom europäischen Kontinent fernzuhalten, aber nicht gut genug, um ein EU-Mitglied zu werden oder um das volle Vertrauen der NATO zu genießen. Präsident Obama lehnte ja die Möglichkeit ab, Ankara das Patriot-Flugabwehrsystem zu verkaufen; er verweigerte auch der Türkei die Technologie freizugeben, die Präsident Erdoğan beim Erwerb des Systems kaufen wollte. Mangelndes Vertrauen?
Dann kam der gescheiterte (oder vereitelte?) Staatsstreich, bei dem amerikanisches und europäisches Engagement gut vermutet werden kann. Gerüchten zufolge hätte sogar das Flugzeug vom Präsidenten Erdoğan abgeschossen worden können, wenn sein Pilot mit einer List das anfliegende Kampfflugzeug nicht getäuscht hätte. Die türkische Luftverteidigung ist in die der NATO integriert. Wenn also die NATO-Führer an diesen dramatischen Ereignissen beteiligt waren, hätten sie Erdoğans Luftverteidigung behindern oder sogar außer Gefecht setzen können. Ein Grund genug für den türkischen Präsidenten, danach Ausschau zu halten, ob er sich vielleicht von der freundlichen Umarmung des Westens nicht mal befreien sollte. Er erfuhr aus erster Hand, dass sein Vertrauen an das Bündnis nicht blind sein darf, und deshalb möchte er nicht, dass das gesamte türkische Verteidigungssystem in das der NATO integriert wird. Genau so antwortete er auch auf die Bedenken der USA, dass das S-400 sei in der Allianz nicht interoperabel.
Das S-400 gilt als ein sehr effektives Boden-Luft-Abwehrsystem. Seine Raketen haben eine hohe Manövrierfähigkeit und eine Blitzgeschwindigkeit von 6 bis 14 Mach! Ankara muss sich keine Sorgen machen, dass es gerade vom F-35-Projekt ausgeschlossen und die Lieferung dieser Kampfflugzeuge eingestellt wurde. Wenn das russische System so gut ist wie beschrieben, haben die F-35-Kampfjets – die als einige der besten gelten und von vielen Ländern als solche gefragt werden – kaum Chancen in einer Konfrontation mit dem S-400. Um das Geschäft für die Türkei attraktiver zu machen, erklärten sich die Russen bereit, einen Teil der für die Herstellung des Systems verwendeten Technologie freizugeben.
Die Türkei bleibt ein NATO-Mitglied. Die Zeit wird zeigen, ob die Amerikaner weitere Sanktionen verhängen werden, insbesondere im Sinne des Countering America´s Adversaries Through Sanctions Act (CAATSA). Wie auch immer: die türkischen Behörden haben mehr politischen Einfluss gewonnen und können das in ihren Verhandlungen mit dem Westen nutzen. Moskau treibt einen Keil in die NATO, deren Mitglieder befürchten, dass jetzt einige der sensiblen Informationen oder Technologien des Bündnisses notgedrungen den Russen vermittelt werden können. Das mag sein. Es stimmt aber auch, dass die NATO mittels der Türkei den Zugang zu der neuesten russischen Luftverteidigungstechnologie erhält, oder? Entweder wird Präsident Erdoğan seine Meinung ändern oder er wird gestürzt, oder durch einen neuen (natürlich pro-westlichen) Politiker ersetzt. Russland hat in Syrien fest Fuß gefasst, indem es dort amerikanische Pläne vereitelt hat. Ist die Türkei ein weiteres Puzzle im Spiel zwischen Moskau und Washington?
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1. Does S400 make F 35 obsolete ? Full analysis, Defence Updates 2018-02-02.
2. S-400 and More: Why Does Turkey Want Russian Military Technology so Badly? The National Interest 2019-07-14.
3. SAM Papers No 16: On Turkey’s Missile Defense Strategy: The Four Faces of the S-400 Deal Between Turkey and Russia, Center for Strategic Research 2019-04.
4. Turkey can’t have both American F-35s and Russia’s S-400s: US, Al Jazeera 2019-07-16.
5. Turkey continues to receive S-400 missile system equipment as more planes arrive from Russia, Daily Sabah 2019-07-14.
6. US expels Turkey from F-35 fighter jet programme, Al Jazeera YouTube 2019-07-18.
7. Why Turkey’s S-400 missile purchase angers the US, Financial Times 2019-07-12.
Ein Kommentar auf “Türkei ändert Spielregeln”
Erdogan auszuwechseln wird selbst mittelfristig nicht mehr möglich sein.
Der größte Teil der CIA-Männer (Fethullah Gülen und Anhänger) sitzen im Gefängnis.
Die Türkei ist in der vollen Kontrolle von Erdogan.
Offene Angriffe auf Türkei sind nicht möglich durch den Westen.
Die Türkei wird/tut sich mehr dem Osten wenden. Das kann/wird den Westen ersetzen langfristig.
Die EU kann mit Sanktionen nichts bewirken gegen die Türkei. (Joker: Flüchtlinge).
Ein bewaffneter Krieg würde nicht die Ziele der EU herbeiführen. (Also Option weg vom Tisch).
Die Türkei, Russland, China und Iran werden wirtschaftlich langfristig die USA zersetzen und die EU in Ihre Kontrolle bringen. Und ab dann werden Gebietserweiterungen durch die Türkei Richtung Balkan beginnen.
Der einzige Weg dieses Szenario zu verhindern wäre die Türkei schnellstens in die EU aufzunehmen und Vertrauen aufzubauen. Denn die Türkei lässt sich nicht mehr hinhalten. Diese Abhängigkeit ist längst vorbei. Die Bevölkerung kennt alle Manipulationsversuche, Inflation, Wirtschaftskrieg etc. des Westens. Je mehr man versucht Erdogan zu schaden, desto stärker wird sein Rückhalt.