Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Nord Stream 2 spaltet die westliche Welt

Wenn wir die aktuelle Situation verallgemeinernd darstellen sollten, würden wir das folgende vereinfachte Bild erhalten: Die Europäische Union ist in zwei Lager aufgeteilt: die alten und die neuen Mitgliedstaaten. Der Westen ist durch den Atlantik aufgespaltet: es ist – grob gesagt – Washington gegen Paris und Berlin. Die Welt ist in drei rivalisierende Großmächte aufgespaltet: die Vereinigten Staaten (starke Armee und starke Wirtschaft), Russland (starke Armee, schwache Wirtschaft) und China (schwache Armee, starke Wirtschaft). Westeuropa gravitiert mehr nach Russland, als nach Osteuropa; Osteuropa fühlt sich hingegen mehr von den USA angezogen, als von Westeuropa.

Die Sachlage auf dem alten Kontinent ist wie folgt.
[1] Deutschland braucht eine stabile Energieversorgung mit Erdgas und von vielen möglichen Versorgern hat es sich für Russland entschieden, weil
[2] Russland hat große Erdgasressourcen und benötigt Devisen, so ist es bereit, seine Rohstoffe jedem zu verkaufen.
[3] Deutschland und Russland haben ein Handelsabkommen geschlossen, infolgedessen eine Pipeline auf dem Ostseegrund gebaut wurde: Nord Stream 1.
[4] Da die Kapazität der Pipeline nicht genügend war, um die Nachfrage aus Deutschland und anderen westlichen Ländern zu decken, wurde ein weiteres Abkommen – Nord Stream 2 – unterzeichnet, kraft dessen eine weitere Pipeline auf dem Ostseeboden verlegt wird. Die Arbeiten daran werden bald fertig.
[5] Beide Erdölleitungen haben osteuropäische Länder – Ukraine, Polen, Tschechien und Slowakei – aufs Eis gelegt, was für sie einen Alarmzustand bedeutet, weil Russland bald den Gashahn an der Yamal-Pipeline (die durch Polen und Weißrussland läuft) und an der Pipeline „Freundschaft“ (durch Tschechien, die Slowakei und Ukraine), zudrehen kann, ohne dass dabei die westeuropäischen Länder beeinträchtigt wären. Somit wird die ökonomische Solidarität der EU bedroht.
[6] die Vereinigten Staaten halfen Westeuropa, als es während (a) des Ersten Weltkrieges (gegen Deutschland), (b) des Zweiten Weltkrieges (gegen Deutschland) und – (c) des Kalten Krieges (gegen die Sowjetunion) in Not war und fühlen sich legitim, diese Rolle weiterzuspielen.
[7] die Vereinigten Staaten sehen sich als ein Pendant des alten Römischen Reiches, wenn sie weltweit, aber insbesondere in Europa, für Pax Americana (seine nationalen und imperialen Interessen) sorgen; wie das Römische Reich haben sie ihre militärischen Stützpunkte (Legionen) in vielen Teilen der Welt, einschließlich Europa und insbesondere in Deutschland. Washington fühlt sich dadurch bedroht, dass Russland wirtschaftlich in Europa vordringt.
[8] Westeuropa hat sich lange bemüht, sich vom amerikanischen Schutz zu emanzipieren, während Osteuropa (insbesondere seit Neuem Polen) bei den Vereinigten Staaten Schutz gegen Russland, dem Nachfolger der Sowjetunion Ausschau hält, weil einige osteuropäische Länder die bitteren historischen Erfahrungen mit Russland und der Sowjetunion hatten: (a) Polen (wo anti-russisches Sentiment am stärksten ist), war von Russen während des 19. Jahrhunderts besetzt und fast 50 Jahre unter sowjetischer Herrschaft nach dem zweiten Weltkrieg; (b) Zwei ungarische nationale Aufstiege wurden 1849 von Russland und 1956 von der Sowjetunion unterdrückt; (c) Rumänien verlor 1940 seine nordöstliche Provinz Moldau (deren Einwohner Rumänen sind) an die Sowjetunion. Deswegen können sich die Vereinigten Staaten auf die osteuropäischen Länder verlassen und sie als Brückenköpfe gegen Westeuropa (insbesondere Deutschland) benutzen und gegen ihre Deals mit Russland.
[9] Die EU ist wegen der beiden Pipelines, die Russland und Deutschland verbinden, gespaltet. Diese Spaltung ist die Folge der Richtlinie 2009/73/EC, die sich gegen russische wirtschaftliche Dominanz richtet und gezielt die sogenannte eigentumsrechtliche Entflechtung erfordert, was bedeutet, dass (a) Energieerzeugung, (b) Energieversorgung und (c) Energieübertragung an unterschiedliche juristische Personen ausgegliedert wird. Diese Richtlinie sollte geschaffen werden, (a) um Europa vor Abhängigkeit von einem externen Energielieferanten zu schützen, (b) um Monopol entgegenzuwirken und (c) um europäischen Kunden die Wahl zu ermöglichen. Die Anforderung die Energieerzeugung, -versorgung und –übertragung zu entflechten, wird das Leben den Russen – oder um exakt zu sein – dem russischen Gazprom schwermachen.
[10] Vereinigte Staaten forcierten hingegen auf eine grelle Art eine Verordnung zum Schutz der Energiesicherheit Europas (Englisch: PEESA), die strafende Sanktionen gegen jede mögliche Entität vorsieht, die am Bau von Nord Stream 2 teilnimmt. Die Verordnung soll Westeuropa – offensichtlich gegen seinen Willen – gegen russische Herrschaft schützen und den Vereinigten Staaten Kunden für ihr Erdgas sicherstellen.


Quelle: BiznesAlert.pl.

Es stellt sich die Frage, warum die Vereinigten Staaten Westeuropa und besonders Deutschland gegen seinen Willen verteidigen möchten? Ist es möglich, dass deutsche Entscheidungsträger nicht sehen, dass diese zwei Pipelines die Unabhängigkeit ihres Landes bedrohen?

Die Antwort ist facettenreich. Es kann sein, dass die deutschen Regierungskreise die Abhängigkeit von Russen anstatt von Amerikanern bevorzugen. Es kann sein, dass sie keine Wahl haben: weder die Nordseeerdgasressourcen, noch die aus dem Mittleren Osten sind zurzeit eine Alternative. Es kann auch sein, dass die deutschen Eliten mehr an ihren eigenen Gewinnen als an dem Wohlergehen ihres Landes interessiert sind; vielleicht noch weniger an ihrer Nation, von der sie entfremdet sind. Der ehemalige Bundeskanzler Gerhard Schröder, um nur ein Beispiel zu nennen, hat an dem Nord-Stream-Projekt intensiv mitgemacht.

Die deutschen Investoren können die beiden Nord-Stream-Pipelines als Sicherung der Quellen für ihre privaten und korporativen Einkommen betrachten. Zu diesem Zweck können sie ein doppeltes Spiel spielen: einerseits Russen anspornen, den Bau der zweiten Pipeline zu beendigen und gleichzeitig bittere Krokodilträne wegen der wachsenden Abhängigkeit Europas von dem östlichen Gasversorger vergießen, was der EU die erwähnte Richtlinie in die Tat umsetzen ermöglichen wird, und wodurch die Investoren einen Teil der Gewinne von Gazprom übernehmen, folglich noch größere Nutzen vom Nord-Stream-Projekt ziehen werden.

Einige osteuropäische Länder, während sie eifrige Mitglieder der EU bleiben, bemühen sich, das deutsch-russische Abkommen zu stören, was sich mit Plänen Washingtons deckt. Dieses bedeutet nicht, dass wir kurz vor neuen Exits aus der EU stehen: ganz im Gegenteil. Die osteuropäischen EU-Länder werden auf ihrer Mitgliedschaft beharren. Eher wird die EU ein wenig geschwächt werden, weil sie sozusagen innerlich zerspalten wird. Die östlichen EU-Mitgliedsstaaten sind möglicherweise überempfindlich, wenn es auf ihre Abhängigkeit von Russland ankommt. Ihre Führer neigen zu dem Gedanken, dass es Russland ist, das sie kontrollieren möchte. Sie scheinen die Tatsache zu übersehen, dass der Nord-Stream-Deal zwei Partner hat: Russland und Deutschland. Wenn sich Berlin um die Souveränität der östlichen Mitgliedstaaten gekümmert hätte, hätte es das Abkommen mit Moskau nicht geschlossen. Ja, durch Umgehung von Polen, der Ukraine, Tschechien und der Slowakei kann Russland wirtschaftlichen Druck auf diese Länder ausüben, indem es die Gasversorgung für sie einschränkt, ohne gleichzeitig die Beziehungen zu Deutschland, den Niederlanden oder Großbritannien gefährden zu müssen. Die beiden Nord-Stream-Pipelines sind für die westlichen Unionsmitglieder eindeutig von Vorteil, da für sie Transitgelder wegfallen, die sonst an Weißrussland, Polen, die Ukraine, Slowakei und nach Tschechien bezahlt werden müssten, wodurch das Gas billiger und billiger wird, denn – wenn das Prinzip der Entflechtung des Eigentums bewirkt wird – kann der Westen auch einen größeren Anteil an der Gasversorgung haben.

Neue Mitgliedstaaten scheinen von ihren älteren Partnern ihrem Schicksal überlassen zu werden. Washington ist ihre einzige Hoffnung, aber Washington handelt lediglich zur Verteidigung seiner eigenen Interessen und blickt misstrauisch auf Berlin und Moskau. Deutschland hat das gegenwärtige Äquivalent des alten Projekts Mitteleuropa geschaffen, was einen Ring wirtschaftlich von ihm abhängiger Staaten in Mitteleuropa bedeutet. Gegenwärtig kontrolliert Berlin in größerem Maße als Moskau das Schicksal seiner östlichen und südlichen, nahen und weiter entfernten Nachbarn. Die in Osteuropa tätigen deutschen Einflussagenten werden alle Anstrengungen unternehmen, um solche Menschen in Warschau, Prag, Bratislava, Budapest, Bukarest und Kiew an die Macht zu bringen, die die deutschen Interessen repräsentieren. Amerikanische Einflussagenten tun dasselbe. Wenn sich Berlin durchsetzt, wird Deutschland die Europäische Union stärker in den Griff bekommen. Wenn sich Amerika durchsetzt, wird die EU geschwächt.

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