Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Von der Sowjetunion bis zur EU

Als das sogenannte kommunistische System in den osteuropäischen Ländern zusammenstürzte, übernahmen sie mit Begeisterung die Demokratie und Wirtschaft im westlichen Stil, was kaum wundert, wenn man zivilisatorische Kluft zwischen den beiden politischen Systemen von damals beachtet. Was überraschte, war die Tatsache, dass die Kommunisten von gestern zu den Sozialdemokraten von heute wurden; dass die Feinde des Westens sich über Nacht in seine Freunde verwandelten; den einstigen Gegner des Liberalismus fiel es auf einmal leicht zu seinen Anhängern zu werden; Lakaien Moskaus entpuppten sich als erbitterte Kritiker Moskaus. Ist es möglich, dass sie (i) so einfach von Tag zu Tag zu Kapitalisten wurden und dass (ii) solche Bekehrung scharenweise zu Stande kam?

Heutzutage sind dieselben Menschen an der Macht, die vor 1989 ihre Landsleute nur deswegen bestrafen wollten, dass sie in den Westen ausreisen oder dass sie politische und wirtschaftliche Ideen aus dem Westen gerne in ihrem Land übernehmen wollten; dieselben Menschen sind an der Macht, denen einst nicht einmal eingefallen wäre, vom Warschauer Pakt auszutreten und sich der NATO anzuschließen, weil es angeblich durch die geopolitische Lage ausgeschlossen war, dieselben Menschen begannen nach 1989 sich über die Gegner der EU und der NATO lächerlich zu machen.

Paradebeispiel: Polen. Das Land wurde vierzig Jahre lang durch die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (polnische Abkürzung: PZPR – sozialistische Partei) regiert, eine Vorbotin des sowjetischen Sozialismus, Kämpferin um ewige Freundschaft zwischen den verbrüderten sozialistischen Staaten, erbitterte Gegnerin des Westens (westliche Technologien ausgeschlossen, die man in den 70er Jahren zu importieren begann, um die Produktion zu steigern und das Lebensniveau zu erhöhen). Die Gegner des Sozialismus und der Freundschaft mit Moskau wurden in den 50er von der PZPR gnadenlos verfolgt, in den 60er als Bürger der zweiten Kategorie behandelt, in den 70er kaum geduldet und in den 80er wieder (im Kriegszustand) nachgejagt. Die letzten Opfer (darunter auch drei katholische Pfarrer Sylwester Zych, Stanisław Suchowolec und Stefan Niedzielak) wurden am Vortag der Gespräche am Runden Tisch ermordet, an dem der Tod des Kommunismus und die Geburt der Demokratie verkündet wurde.

Nachdem die immer noch bestehende Sowjetunion ihren Griff, mit dem sie die osteuropäischen Ländern hielt, gelockert hatte, begannen die alten Parteigenossen, die Verhandlungen und Gespräche zur Machtaufteilung und zum neuen politischen Kurs mit den Mitgliedern der Opposition, die sie sich früher sorgfältig ausgewählt hatten. Sobald die Gespräche abgeschlossen wurden, löste sich die PZPR aus, oder genauer gesagt wandelte sie sich in eine sozialdemokratische Partei um, und ihre Mitglieder beteiligten sich weiter aktiv an politischen Geschehnissen. Alle diese Menschen verliebten sich auf einmal in die westliche Demokratie und in den westlichen Liberalismus.

Aleksander Kwaśniewski, in den Jahren 1977-1990 Apparatschik in der PZPR (und somit Verteidiger des sozialistischen Politik- und Wirtschaftssystems) unterstützte konsequent als Politiker, Minister in der Regierung nach 1989 und zuletzt als Staatspräsident die Bemühungen Polens, der EU und der NATO beizutreten.1)Aleksander Kwaśniewski /kwa-schnie-ewskie/, Wikipedia.Leszek Miller, Mitglied des Politbüros der PZPR, später nach der Wende auch Ministerpräsident, beaufsichtigte Verhandlungen zum EU-Beitritt Polens.2)Leszek /le-schek / Miller / Wikipedia, (Polish).Włodzimierz Cimoszewicz, als Außenminister und Ministerpräsident, beteiligte sich aktiv am EU-Beitritt Polens.3)Włodzimierz Cimoszewicz /wlo-dschimie-esch tschie-mo-sche-wietsch/, Wikipedia.Danuta Hübner, zwischen 1970-1987 Mitgliederin der PZPR, machte noch im Kommunismus eine steile Karriere, hielt sich zu wissenschaftlichen Stipendien in Spanien, Großbritannien und in den USA auf, um später zur ersten polnischen Kommissarin in der EU zu werden.4)Danuta Hübner, Wikipedia (English).Leszek Balcerowicz, ein einflussreicher Mitglied der PZPR, war jahrelang am Institut für Marxismus und Leninismus tätig, konvertierte später zum Kapitalismus, war nach 1989 Schöpfer der Wirtschaftsreformen nach Ideen von Jeffrey Sachs.5)Leszek Balcerowicz /le-schek bahl-tzer-owitsch/, Wikipedia.Warum? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Warum konvertierten die Kommunisten von gestern in die Kapitalisten von heute? Warum wurden die einstigen Anhänger der Sowjetunion zu den Anhängern der EU? Waren sie jemals wirklich Verfechter einer politischen Idee? Glaubten sie daran, was sie verbreiteten? Mussten sie nach dem EU-Beitritt tatsächlich ihre Überzeugungen ändern?

Paradebeispiel: Rumänien. Ion Iliescu, einst ein hochgestellter Kommunist, Mitglied des Zentralkomitees der Rumänischen Kommunistischen Partei, bekleidete dann nach dem Sturz von Nicolae Ceausescu das Amt des Staatspräsidenten Rumäniens und stand dem Beitritt seines Landes zur EU und zur NATO zur Seite.6)Ion Iliescu, Wikipedia.7)Profile: Ion Iliescu, BBC 2000-12-11.

Gründungsväter der EU waren christliche Politiker (Alcide De Gasperi, italienischer Demokrat, katholisch), Jean Monnet (Wirtschaftswissenschaftler, katholisch), Robert Schuman (christlicher Demokrat, katholisch) sowie Paul-Henri Spaak (Ministerpräsident Belgiens, katholisch). Kein Wunder – die linken und linksorientierten Parteien und Gruppierungen und deren Mitglieder wollten nicht als solche angesehen werden, die sich einer Religion beigesellen, die sie selber für rückständig, repressiv und abergläubisch hielten.

In den 50er und 60er erlebten die Linken ihre Blütezeit: die Sowjetunion, ein Staat nach marxistischen Grundsätzen, erfreute sich Anerkennung in der ganzen Welt; die eine Hälfte von Europa war sozialistisch, die andere Hälfte neigte immer mehr zum Sozialismus; die Dritte Welt, von der marxistischen Ideologie stark geprägt, begann gegen die Kolonialmächte zu rebellieren; die kapitalistischen Regierungen begannen, vom Osten unter Druck gesetzt und in der Befürchtung der sozialen Revolution in ihren Ländern, sozial(istisch)e Programme einzuführen; zuletzt beschloss auch die katholische Kirche tiefgehende Änderungen einzuleiten, wozu Kardinäle und Bischöfe in Rom zusammenkamen, um den Katholizismus für die moderne Welt erträglicher zu machen (oder anders: als die Menschen der Lehre der Kirche nicht mehr folgten, begann die Kirche das zu lehren, was die Menschen hören wollten).

Alles änderte sich aber in den 70er. Als der revolutionäre Eifer nachließ, warfen die osteuropäischen kommunistischen Machthaber ihre Gegner aus dem Sattel und merkten es langsam, dass der Sozialismus gar nicht so funktioniert, wie es ihn in der Vergangenheit seine Schöpfer darstellten und dass die Wirtschaft Anreize braucht, denn sonst mangelt es an Waren, Arbeitsqualität sinkt und somit ist auch die Gesellschaft unzufrieden. Das wurde besonders für die zweite Generation der Kommunisten klar. Früher (in Polen, Ungarn), oder später (in der Sowjetunion) wurde es aber allmählich in der sogenannten sozialistischen Wirtschaft zugelassen, dass der Markt durch Angebot und Nachfrage sowie durch Gewinne und Verluste geregelt und angereizt wird. Und so begannen sich die zwei Systeme, das kapitalistische und das sozialistische anzugleichen: für die osteuropäischen Apparatschiken wurde jetzt die Sowjetunion durch das kapitalistische Schweden als Vorbild für Wirtschaft und Gesellschaft ersetzt.

Und endlich, nachdem die letzten ideologischen Hindernisse aus dem Weg geräumt worden waren, d.h. als die westeuropäischen Länder die Überreste des christlichen Gedankengutes verworfen hatten und die Linken das europäische Projekt, das von Katholiken erschaffen worden war, übernommen hatten, hatte die zweite und die dritte Generation der erbitterten Kommunisten keine Bedenken mehr – warum sollten sie sich nicht mal mit ihren westlichen Kollegen verbrüdern um so mehr, dass sie an (nicht selten den westlichen) Universitäten studierten und an dem Bourgeois-Lebensstil Geschmack fanden.

Paradebeispiel: Ostdeutschland. Angela Merkel, Tochter des evangelischen Pfarrers Horst Kasner, der nicht ohne Grund „roter Kasner“ genannt wurde, weil er die Kirche mit dem Sozialismus zu versöhnen suchte (dermaßen, dass er gegen die Wiedervereinigung Deutschlands plädierte). Merkel war Mitglied der FDJ und kurze Zeit auch Sekretärin der FDJ für Agitation und Propaganda. Inzwischen näherte sich die BRD dem Modell des sozialistischen Staates so an, dass Merkel später nichts gegen die Vereinigung der beiden deutschen Staaten hatte und auch die Mehrheit der Deutschen akzeptierte sie mit ihrem sozialistischen DDR-Erfahrungsschatz als Kanzlerin. Ihr Ausspruch „Wir schaffen das!“ entnahm sie ihren politischen Erfahrungen aus der DDR8)Angela Merkel, Wkipedia.; Gregor Gysi, heute Mitglied der Linken, gestern der SED, ihr letzter Vorsitzender, der für ihre Umwandlung in eine sozialdemokratische Partei wirkte.9)Gregor Gysi, Wikipedia.Die neue Generation der ehemaligen Kommunisten erblickte ihre Chance und wechselte auf die andere Seite: sie gab ihre Loyalität der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken gegenüber auf und verpflichtete sich zur Loyalität bei der Union der Europäischen Sozialistischen Republiken. Endlich erhielt der Sozialismus ein menschliches Antlitz der Demokratie und des Liberalismus im westlichen Stil. Alte Konzepte und Begriffe wurden umbenannt: die Bezeichnung „Volks-„ verschwand vom Namen der sozialistischen Demokratien, der Internationalismus wurde zur Globalisierung, die Rechte der Arbeiterklasse wurden durch die Rechte der sexuellen, ethnischen und Gender-Minderheiten ersetzt, anstelle blinden Hasses gegen Religion, nationales Zugehörigkeitsgefühl und Tradition kamen Toleranz und Gleichgültigkeit; die Zensur verwandelte sich in die politische Korrektheit. Die zwei Systeme wurden so ähnlich, dass man sich eine gewisse Zeit lang über die Vereinigung der EU mit der Sowjetunion Gedanken machte.10)Russian dissident who copied the Gorbachev Foundation’s archive: Mitterrand and Gorbachev wanted the European Socialist Union, Thatcher opposed Germany’s reunification, HotNews. Ro 2009-09-28.Der Westen lag aber nicht auf der faulen Haut. Die Generation um das Jahr 1968, die linken Aktivisten und ihre geistlichen Führer, von Mao und Ho Chi Minh geblendet, begann ihren Marsch durch die Institutionen, um sich der EU zu übermächtigen. Altiero Spinelli in Italien, Daniel Cohn-Bendit in Frankreich und Joschka Fischer in Deutschland, um nur einige zu nennen, spielten eine wichtige Rolle bei der Umgestaltung des kollektiven Bewusstseins der Europäer nach dem sozialistischen Muster. Während die Kinder der einfachen osteuropäischen Kommunisten von der Arbeiterklasse auf der sozialen Leiter kletterten, indem sie Studium aufnahmen, verbrüderten sich die Kinder der gut gebildeten westlichen Europäer mit der Arbeiterklasse und verloren ihren sozialen Status, indem sie gegen Spießer rebellierten. Die ideologische Kluft zwischen dem Osten und dem Westen wurde zugeschüttet und der Weg zur Einheit Europas geebnet.

References   [ + ]

1. Aleksander Kwaśniewski /kwa-schnie-ewskie/, Wikipedia.
2. Leszek /le-schek / Miller / Wikipedia, (Polish).
3. Włodzimierz Cimoszewicz /wlo-dschimie-esch tschie-mo-sche-wietsch/, Wikipedia.
4. Danuta Hübner, Wikipedia (English).
5. Leszek Balcerowicz /le-schek bahl-tzer-owitsch/, Wikipedia.
6. Ion Iliescu, Wikipedia.
7. Profile: Ion Iliescu, BBC 2000-12-11.
8. Angela Merkel, Wkipedia.
9. Gregor Gysi, Wikipedia.
10. Russian dissident who copied the Gorbachev Foundation’s archive: Mitterrand and Gorbachev wanted the European Socialist Union, Thatcher opposed Germany’s reunification, HotNews. Ro 2009-09-28.

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