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Casus belli in den britisch-russischen Beziehungen

Analyse der Lage und mögliche Entwicklungen

Der Versuch der Vergiftung des Doppelagenten Siergiej Skripals bietet eine Gelegenheit, einige Fragen nach der Reaktion Großbritanniens darauf zu stellen. Skripal ist ein ehemaliger GRU-Agent, der in Russland wegen der Spionage für den britischen MI6 verurteilt wurde. 2010 kam er infolge des Spionenaustauschs nach England. Anfang März dieses Jahres wurde er mit dem Nervengift Nowitschok im britischen Ort Salisbur angegriffen und befindet sich seither im kritischen Zustand. Die britische Regierung beschuldigte Russland der Anwendung einer chemischen Waffe auf dem Gebiet eines souveränen Staates. Theresa May forderte von Moskau Erklärungen, und ging sogar einen Schritt weiter, als sie sagte: „Wenn wir keine glaubwürdige Antwort bekommen, werden wir diese Aktion als einen unberechtigten Gewalteinsatz gegen Großbritannien durch den russischen Staat deuten.”1)Russian spy poisoning: Theresa May issues ultimatum to Moscow, The Guardian, 2018-03-13.Es sieht danach aus, als würde London versuchen, einen diplomatischen Konflikt zu entfachen, es liegt ja sogar die Vermutung nahe, dass die britischen Premierministerin den Vorfall als Casus belli versteht. Kreml weist die Beschuldigungen als grundlos zurück und warnt Großbritannien vor unbedachten Maßnahmen.2)Russia will kick out UK media outlets if London shuts RT – RIA, Reuters, 2018-03-13.

Das Gefira-Team analysierte mögliche Szenarien der Ereignisse.

Der militärische Eingriff
Das Kriegspotenzial Großbritanniens3)2017 United Kingdom Military Strength, Global Firepower 2017.ist im Vergleich zu dem russischen klein.4)2017 Russia Military Strength, Global Firepower 2017.Kreml besitzt über achtzig mal mehr Panzer und neunmal mehr Jagd- und Kampfflugzeuge. Obwohl die britische Armee zwei Flugzeugträger besitzt (Russland nur eins), sind britische Flugzeuge nicht im Stande, den russischen Luftraum zu gefährden. Großbritannien hat außerdem als ein auf den Inseln gelegenes Land viel schlechtere Möglichkeiten sich zu verteidigen. Die russische Kriegsmarine besitzt 15 Zerstörer und 63 U-Boote (darunter 30 mit Atomantrieb), das Vereinigte Königreich dementsprechend: 6 und 11. Darüber hinaus besitzt Russland gemäß der Heartland-Theorie strategische Gebiete im zentralen Eurasien, die nicht leicht zu erobern sind, im Vergleich zu den Gebieten an den Außengrenzen Europas und Asiens, die schwer zu verteidigen sind. Die Heartland-Theorie formulierte H. Mackinder; er setzte voraus, dass Gebiete im zentralen Eurasien eine natürliche Festung sind und seine Besitzer zur Herrschaft über den Rest der Welt vorherbestimmt sind. Mehr in der Analyse:5)Ein globaler Konflikt bahnt sich an, Gefira 2017-10-03.Die Unterstützung der anderen NATO-Länder angesichts der britisch-russischen Auseinandersetzung ist trotz der Erklärung der Solidarität mit dem Vereinigten Königreich6)NATO to UK: Count on our solidarity, Euronews, 2018-03-15.wegen mangelnder Rechtsgrundlagen für den Bündnisfall des Nordatlantikvertrags kaum wahrscheinlich.

Cyberangriff
Obwohl London über eins der besten IT-Potentiale in der Welt besitzt, scheint eine Cyberattacke auf Russland kaum möglich zu sein. Beide Seiten des Konflikts sind technologisch sehr fortgeschritten, eine Auseinandersetzung würde also beiden Ländern erhebliche Verluste mit sich bringen. Russische Gegenangriffe könnten ausländische Unternehmen mit Sitz in England hart treffen. Die britische Regierung zieht es in Betracht, ihr ist es auch bewusst, dass eine Eskalation des Cyber-Krieges die globalisierte Welt lahmlegen könnte. Die einzige Vergeltungsmaßnahme, die das Vereinigte Königreich treffen kann, ist Offenlegung der Informationen über Kreditkarten russischer Politiker, Oligarchen oder Diplomaten, was lediglich den einzelnen Personen und nicht Russland schaden würde.

Wirtschaftssanktionen
Die Auferlegung der Wirtschaftssanktionen, nicht nur durch London, sondern auch durch den EU-Rat ist höchstwahrscheinlich, ihre Folgen werden doch kaum eine Rolle spielen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sie auch von Washington unterstützt werden. Ebenso wie im Falle der Sanktionen von 2014 werden sie gegen Banken- und Finanzsektor, Erdölunternehmen, Waffenhandel, Verkauf von High-Tech-Lösungen gerichtet; es können auch Vermögenswerte russischer Unternehmen, Politiker und Oligarchen eingefroren werden. Die Beziehungen zwischen den wichtigsten europäischen Playern im Bereich Energie sind ihnen wohl wichtiger als ein Streit über einen ehemaligen Doppelagenten. Vielmehr: als Vergeltung für Sanktionen kann Moskau Erdgaslieferungen nach Europa begrenzen, was für den Alten Kontinent viel peinlicher wäre als die genannten Sanktionen für Russland.

Diplomatische Sanktionen
Damit wird wohl die Sache ihren Abschluss finden. Die Entscheidung über die Ausweisung 23 russischer Diplomaten7)Britain expels 23 Russian diplomats over nerve attack on ex-spy, Reuters 2017-03-14.ist die größte Maßnahme solcher Art seit dem Kalten Krieg. Moskau antwortete auf dieselbe Weise: es warf aus Russland britische Diplomaten aus.8)Russia to expel UK diplomats as crisis over nerve toxin attack deepens, Reuters, 2018-03-16.Das von der Premierministerin T. May angekündigte Streichen aller bilateralen Treffen sowie Maßnahmen zur Erniedrigung des Ranges der Fußballweltmeisterschaften, die in diesem Jahr in Russland stattfinden werden, sind eher ein Zeichen für Hilfslosigkeit der britischen Diplomatie. Auch die UNO kann kaum auf den Vorfall reagieren, da die Russische Föderation als ein ständiges Mitglied des UNO-Sicherheitsrates seine Entscheidungen mit einem Veto blockieren kann.

Zusammenfassend: es ist höchst wahrscheinlich, dass die Premierministerin Theresa May keine internationale Reaktion herauslösen, sondern den Vorfall zur Stärkung der eigenen Position in der Innenpolitik nutzen wollte, indem sie einen Feind von Außen schuf. Leere Drohungen auszustoßen – sei es wegen der eigenen Schwäche oder wegen der mangelnden internationalen Unterstützung – sind nichts anderes als ein Säbelrasseln. Das Vereinigte Königreich kann keine Maßnahmen treffen, auf die Moskau nicht mit entsprechenden Gegenmaßnahmen reagieren könnte. Es scheint also, dass die europäischen Führer unbedingt einen Feind vom Außen kreieren wollen, statt sich mit den tiefgehenden demographischen Wandlungen auf dem Alten Kontinent zu befassen.

References   [ + ]

1. Russian spy poisoning: Theresa May issues ultimatum to Moscow, The Guardian, 2018-03-13.
2. Russia will kick out UK media outlets if London shuts RT – RIA, Reuters, 2018-03-13.
3. 2017 United Kingdom Military Strength, Global Firepower 2017.
4. 2017 Russia Military Strength, Global Firepower 2017.
5. Ein globaler Konflikt bahnt sich an, Gefira 2017-10-03.
6. NATO to UK: Count on our solidarity, Euronews, 2018-03-15.
7. Britain expels 23 Russian diplomats over nerve attack on ex-spy, Reuters 2017-03-14.
8. Russia to expel UK diplomats as crisis over nerve toxin attack deepens, Reuters, 2018-03-16.

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