Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Eine Welt ohne wertende Sprache

Ein Chefredakteur einer einflussreichen wissenschaftlichen Zeitschrift hat einen Text über Wölfe mit der folgenden einleitenden Definition erhalten:

Der Wolf ist ein großes Raubtier oder ein Fleischfresser, d.h. er ernährt sich von Huftieren, aber auch von Nagern und Insektenfressern. Er ist in Europa, Asien und Nordamerika beheimatet. Der Wolf lebt in Familien, in denen das Alpha-Männchen und das Alpha-Weibchen die wichtigste Rolle spielen. Wölfe markieren ihr Revier durch Geruch und Heulen.

Meine Güte, dachte er. Das verstößt gegen alle unsere Richtlinien! Also antwortete er – höflich – dem Autor:

Wir würden Ihren Text sehr gerne veröffentlichen. Leider verstößt das, was Sie eingereicht haben, gegen unsere Community-Richtlinien. Sobald Sie Ihren Text an diese anpassen, sind wir gerne bereit, ihn zu akzeptieren. Im Anhang finden Sie die Richtlinien. Mit freundlichen Grüßen.

Der Autor schlug die Richtlinien auf und begann zu lesen. 

Hase und Wolf (Russisch: Ну, погоди!) Sowjetischer Cartoon.

Unsere Community-Richtlinien legen Wert auf eine inklusive Sprache und zielen darauf ab, Begriffe zu vermeiden, die eine Hierarchie etablieren, Begriffe, die eine Tierart diskriminieren, die ihrer biologischen Rolle gegenüber voreingenommen sind, Wörter, die Hass schüren oder als wertend empfunden werden könnten. Wir hoffen aufrichtig, dass Sie unsere Politik nicht nur verstehen, sondern sich auch von ganzem Herzen damit identifizieren.   

Der Autor fühlte sich ein wenig verwirrt. Er war bereit, den Text an alle Anforderungen anzupassen. Immerhin musste er Punkte für Veröffentlichungen sammeln und seine Zitierhäufigkeit erhöhen und was nicht alles auch immer. Außerdem erhielt er ein stattliches Stipendium, um seine Forschungen und Untersuchungen durchführen zu können. Dennoch war der Autor in Schwierigkeiten. Er wusste wirklich nicht, was er an seinem Text ändern sollte. Er identifizierte sich stark mit Menschen, die eine inklusive Sprache bevorzugen; er verachtete Hierarchien und diskriminierte nie eine Tierart oder hatte niemals Vorurteile gegen ihre biologischen Rollen. Unnötig zu erwähnen, dass er Hassrede wie die Pest hasste. Da er sich am Ende seiner Kräfte fühlte, wandte er sich an den Chefredakteur:

Sehr geehrter Chefredakteur, wären Sie so freundlich, meinen Text von einem Ihrer Lektoren bearbeiten zu lassen, damit er den Anforderungen entspricht? Ich bin bereit, alle anfallenden Kosten zu übernehmen. Mit freundlichen Grüßen, Autor.

Der Chefredakteur murmelte etwas irritiert vor sich hin, aber er musste ja den ständigen Fluss der eingehenden Texte aufrechterhalten, sonst könnte seine Zeitschrift Verluste machen und der finanziellen Unterstützung beraubt werden. Widerwillig übertrug er die Aufgabe an einen seiner jüngeren Kollegen, der die Definition des Wolfes rechtzeitig ausarbeitete und den folgenden Beitrag an den Autor zurückschickte:

Der Wolf, Bruder des Haushundes, ist ein großes RaubTier bzw. ein Fleischfresser, der zum Überleben Proteine benötigt, d.h. er ernährt sich von Huftieren, aber auch von Nagetieren und Insektenfressern. Er ist derzeit in Europa, Asien und Nordamerika beheimatet wohnhaft und bildet FamilienGemeinschaften, in denen die AlphaMitglieder abwechselnd die wichtigste Rolle spielen des Männchens und des Weibchens einnehmen. Wölfe, Brüder des Haushundes, markieren ihr Revier, in das sie eingewandert sind, durch lieblichen Duft und freundliches Heulen Begrüßungslaute

Hase und Wolf (Russisch: Ну, погоди!) Sowjetischer Cartoon.

Ein Kommentar auf “Eine Welt ohne wertende Sprache

  • Hoffentlich ist der Text ironisch gemeint. Die Umschreibung verwendet mehr wertende Sprache als das Original.

    “Raubtier” ist keine Wertung, sondern ein Beschreibung. Wölfe jagen und fressen Tiere. Das ist ihr natürliches Verhalten. Das unterscheidet Wölfe von Tieren, die sich anders ernähren. Das ist nicht nur aus Perspektive der betroffenen Beutetiere ein erwähnenswerter Unterschied.

    Im Gegensatz zum “lieblichen Duft” enthält “Geruch” keine Wertung. Es ist für die Beschreibung der Tierart Wolf egal, ob menschliche Redakteure den Geruch als lieblichen Duft oder widerlichen Gestank erleben. Hier geht es nur darum, dass Wölfe untereinander am Geruch erkennen können, welches Rudel ein bestimmtes Revier für sich beansprucht.

    “Heulen” ist keine Wertung, sondern ein Fachbegriff für einen bestimmten Tierlaut. Wölfe begrüßen mit dem Geheul keine andere Wölfe, sie grenzen ihr Revier ab. Das ist weder gut noch schlecht, das ist einfach so.

    Der Wolf ist kein “Bruder des Haushundes”, sondern – wenn man schon Familienmetaphern nehmen will – der “wilde Vorfahr des Haushundes”. Aber wozu die Umschreibung als Haushund, wenn man den Wolf einfach als eigene Tierart respektieren kann? Der Wolf ist ein Wolf.

    Der umgeschriebene Text wertet durch Auslassungen, Verdrehungen, Vermenschlichung und verniedlichende Sprache. Er ist ein Negativbespiel für wertende Sprache.

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