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Drei Fahnen der Kontinuität oder das Versagen des Westens bei der Unterwerfung des russischen Geistes

Am 17. Juni 2023 wurden im Park des dreihundertjährigen Bestehens von St. Petersburg drei riesige Flaggen der russischen Staatlichkeit feierlich gehisst. Es waren die schwarz-gelb-weiße Flagge des kaiserlichen Russlands, die rote Flagge der Sowjetunion und die weiß-blau-rote Flagge der Russischen Föderation. Sie wehen an 180 Meter hohen Masten, die auf dem Grund des Finnischen Meerbusens verankert sind. Jede Flagge ist 40 x 60 Meter groß (zwei solcher Flaggen würden ein Fußballfeld bedecken) und wiegt eine halbe Tonne. An der Zeremonie nahmen zahlreiche hochrangige Beamte teil, darunter auch der russische Präsident Wladimir Putin, der die Feierlichkeiten von einer Yacht aus verfolgte, begleitet von der Generaldirektorin von Gazprom, die ihm die Einzelheiten erläuterte. Ein Orchester spielte feierliche Musik – darunter die Nationalhymne der Russischen Föderation – während Schauspieler in den Pausen patriotische Gedichte rezitierten. So viel zur Veranstaltung.

Das Hissen von drei historisch aufeinanderfolgenden Flaggen ist ein wichtiger Hinweis auf die Kontinuität der russischen Staatlichkeit. Noch vor wenigen Jahren hätte niemand zu träumen gewagt, dass die Flagge der Sowjetunion auf einem offiziellen Mast wehen würde. Heute, nach dem orchestrierten Angriff auf Russland, sind seine Führung, seine Eliten und die einfachen Menschen zu einem glühenden Patriotismus zurückgekehrt. Umfragen zeigen, dass die Popularität von Josef Stalin und der Sowjetunion zunimmt. Und warum? Wegen der Arbeit der Psychologen des Westens. Sie konnten sich nie zügeln, wenn es darum ging, die russischen Bürger zu propagieren und die russische Vergangenheit in den Schmutz zu ziehen. Alles Sowjetische und alles Russische – so lautete die Botschaft, die den Bürgern der Föderation eingeimpft wurde – sollte absolut schlecht, böse, abscheulich und widerwärtig sein. Das funktionierte bis zu einem gewissen Punkt. Dann dämmerte selbst den Dümmsten die Erkenntnis: Verdammt, als wir (Russen) unter dem brutalen Tyrannen standen, fürchtete der Westen uns; jetzt, da wir verwestlicht sind und den westlichen Forderungen nachkommen wollen, begann der Westen, Russland regelmäßig mit Füßen zu treten. 

Die westlichen Manager der Welt werden angeblich von erfahrenen Soziologen, Psychologen und Meistern der Propaganda beraten, zumindest so was wird uns erzählt. Seltsam. Wie bei König Midas wird alles, was diese Spezialisten anfassen, verkackt. Ein Frontalangriff auf ein Land – egal welches – führt in der Regel dazu, dass sich das Volk um seinen Führer schart, egal ob es sich um einen Diktator, einen Satrapen oder einen Tyrannen handelt. Nicht umsonst behaupten einige Historiker, dass der Bürgerkrieg in der Sowjetunion, der nach dem bolschewistischen Staatsstreich ausbrach und gemeinhin als bolschewistische oder russische Revolution bezeichnet wird, in Wirklichkeit 1941 und nicht – wie offiziell angegeben – 1923 endete. Der Brudermord mag zwar um 1923 beendet worden sein, der tiefe Riss, der sich durch alle Teile der Gesellschaft zog, jedoch nicht. Dann kam der 22. Juni 1941, der deutsche Angriff, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, und alle Bevölkerungsschichten und ethnischen Minderheiten scharten sich um Josef Stalin, obwohl viele ihn noch einen Tag vor Ausbruch der Feindseligkeiten gehasst hatten. 

Wladimir Putin ähnelt Josef Stalin gewiss nicht im Entferntesten, auch wenn die westliche Propaganda es anstrebt, dass daran geglaubt wird. Wie stärker müssen sich die Bürger Russlands um ihn scharen, jetzt, da sie alle einem unerbittlichen Angriff ausgesetzt sind – einem wirtschaftlichen und psychologischen? Denken Sie in diesem Zusammenhang an die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs und ihre unerschütterliche Loyalität zu Adolf Hitler. Die westlichen Alliierten dachten, sie könnten diese Loyalität brechen, als sie mit der Bombardierung deutscher Städte begannen. Mit welchem Ergebnis? Es gab keinen einzigen Aufstand. Selbst die Einäscherung Dresdens drei Monate vor Ende der Feindseligkeiten half den Alliierten in dieser Hinsicht nicht. Die überlebende Zivilbevölkerung blieb dem Feind gegenüber trotzig und den Behörden gegenüber sogar noch loyaler. Warum glauben die politischen Entscheidungsträger im Westen, dass es dieses Mal anders sein wird?

Denken Sie einmal darüber nach. Wenn Sie den Reden von Präsident Putin in den letzten zwanzig Jahren zugehört hätten – und ich wage zu behaupten, dass Sie das nicht machten -, wäre Ihnen aufgefallen, [1] wie oft er die Zusammenarbeit zwischen dem kollektiven Westen und Russland (einschließlich der Mitgliedschaft Russlands in der NATO) vorgeschlagen hat und [2] wie oft er den kollektiven Westen davor gewarnt hat, seine militärische Präsenz in der Ukraine auszuweiten. All dies stieß auf taube Ohren. Damals waren die russischen Eliten bereit, fast alles zu tun, was der Westen ihnen auferlegen wollte, aber sie erwarteten ein gewisses Maß an Gegenseitigkeit: Gleichbehandlung und Respekt. Im Jahr 2000 war Russland völlig am Boden und zeigte eine kriecherische Haltung gegenüber allem, was westlich war. Wie so oft – kein Geringerer als Äsop, der griechische Autor moralischer Fabeln, hat dieses Phänomen vor mehr als zwei Jahrtausenden beschrieben – sah der Westen einen schwachen Partner und beschloss, sich zu bereichern. Und ja, der Westen wäre erfolgreich gewesen, wenn Russland weiterhin von einem anderen Boris Jelzin regiert worden wäre. Aber Pech gehabt: Boris Jelzin wurde durch Wladimir Putin ersetzt.

Aber auch Wladimir Putin war, wie bereits erwähnt, bereit, zu kooperieren statt zu konkurrieren, gute Taten zu erwidern statt schlechte zu vergelten, voneinander zu profitieren, statt einander zu schaden. Vergeblich. Schon früh wurde er als Diktator abgestempelt und als solcher behandelt. Lange Zeit versuchten die westlichen Manager der Welt, einen Teil der russischen Eliten gegen den Führer des Landes aufzubringen. Das hätte auch gelingen können: Denn wenn russische Milliardäre und Millionäre ihre Konten bei westlichen Banken hatten, als sie Immobilien im Westen kauften, als sie ihre Kinder an westlichen Universitäten ausbilden ließen, als – last but not least – von Minderwertigkeitskomplexen getriebene russische Eliten (so typisch für mittel- und osteuropäische Nationen) verzweifelt versuchten, ihre – wie sie meinten – russische Rückständigkeit abzuschütteln und die westliche Lebensweise zu übernehmen, dann waren diese russischen Eliten leichte Beute für die westlichen Mächte. Unglücklicherweise für die westlichen Eliten führten ihre Selbstüberschätzung, ihre Eitelkeit, gepaart mit der völligen Verachtung für ihren großen östlichen Partner, dazu, dass sie ihr Blatt überspielten. Infolgedessen müssen sie nun mit Entsetzen das Wiederaufleben des russischen Patriotismus, die Stärkung des russischen Bewusstseins der historischen Kontinuität, die Versöhnung Russlands mit seiner Vergangenheit und die Schar der russischen Bürger um den russischen Führer beobachten. Mäßigung hätte zu einer sanften Beherrschung Russlands durch den Westen geführt; Selbstherrlichkeit hat zu einem Zusammenstoß geführt. Mäßigung hätte Russlands patriotische und politische Kraft weiter geschwächt. Feindseligkeit hat Selbstachtung und Selbstwertgefühl geweckt.

Die drei Flaggen an den drei Masten symbolisieren nicht nur die historische Kontinuität, sondern auch die Einheit zwischen Russen unterschiedlicher politischer Überzeugungen: Monarchisten, Postkommunisten, Republikanern und so weiter. Wenn man sich die drei Symbole ansieht, findet jeder etwas für sich, für seine Überzeugungen und Gefühle. Würde ein amerikanischer Präsident es wagen, die Flagge der Konföderierten gegenüber der Nationalflagge der Vereinigten Staaten zu hissen, um den Südstaatlern zu gefallen? Würde ein französischer Präsident eine weiße Flagge zusammen mit der französischen Nationalflagge hissen, um den französischen Royalisten zu gefallen? Würde ein deutscher Bundeskanzler die deutsche Reichsflagge – geschweige denn die Flagge des Dritten Reiches! – vor dem Bundestag hissen, um die Kontinuität der deutschen Staatlichkeit zu demonstrieren? Würde ein deutscher Bundeskanzler zulassen, dass die Flagge der kurzlebigen Deutschen Demokratischen Republik an einem öffentlichen Ort gleichberechtigt mit der heutigen Flagge gezeigt wird? Nein, die europäischen Staats- und Regierungschefs ziehen die Flagge der Europäischen Union ihren nationalen Symbolen vor, und einige von ihnen – insbesondere Angela Merkel – sind dafür bekannt, dass sie die nationale Flagge mit Abscheu betrachten.

 

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