Der europäische Blickwinkel. Auf dem Weg in die Welt von Morgen.




Wer Wind sät, wird Sturm ernten

Es gab eine Zeit, in der die europäischen Länder andere Kontinente eroberten, um das Christentum zu verbreiten, d.h. um die Wilden – wie es hieß – vor der ewigen Verdammnis zu retten. Da das Christentum nun schon seit vielen Jahrzehnten tot ist, haben die westlichen Nationen eine neue Religion ausgerollt: die der Menschenrechte. Der Vorteil des neuen Glaubensbekenntnisses ist es, dass es universell sein soll – als solches wurde es ja auch von den Vereinten Nationen angenommen. Außerdem wird bei der Annahme des neuen Glaubensbekenntnisses von den verschiedenen Völkern der Welt nicht verlangt, ihren religiösen Überzeugungen abzuschwören. Vielmehr zeigen es die religiösen Führer verschiedener Glaubensrichtungen eifrig, dass ihre religiösen Gebote schon immer im Einklang mit den universellen Menschenrechten standen oder dass sich die Menschenrechte sogar aus ihrem Glaubensbekenntnis ableiten.

Wie auch immer ist die Religion der Menschenrechte ein politisches Werkzeug in den Händen der Mächtigen, um andere ihrem Willen zu unterwerfen. Unter dem Vorwand, die Menschenrechte zu verteidigen, werden Kriege geführt, Raketen abgefeuert, Revolutionen inszeniert und Regierungen gestürzt. Jugoslawien, Libyen, Syrien, Afghanistan – nennen Sie selbst weitere Beispiele – wurden alle im Namen der Verhinderung von humanitären Katastrophen oder deren Ausbreitung mit Strafmaßnahmen belegt. Die Länder wurden im Namen der Rettung des Lebens von – ja, ja – Frauen und Kindern und unterdrückten Minderheiten aller Art bombardiert. Selbst als die Amerikaner nicht wussten, was sie mit der Angliederung der Krim an Russland anfangen sollten, verwies Victoria Nuland bei der Aufzählung der angeblichen russischen Verstöße gegen das Völkerrecht und – wie sollte es anders sein! – gegen die Menschenrechte auf die angebliche Verfolgung der homosexuellen “Gemeinschaft”, wie sie es formulierte.

Die Religion der Menschenrechte wird nur dann benutzt, wenn sie nützlich wird. Das Schicksal der Uiguren in China war für die “internationale” Meinung jahrzehntelang kein Problem, bis es in die Pläne Washingtons passte, es als Druckmittel gegen Peking einzusetzen. Seitdem China als Rivale Amerikas im Kampf um die Weltherrschaft gilt, wird die Menschenrechtskarte immer häufiger gespielt. Wenn man den westlichen Medien zuhört, dann bekommt man nur eine Botschaft mit: Dass das Reich der Mitte ein Hort der schlimmsten Gräueltaten ist, die sich gegen bestimmte Gruppen von Menschen richten: Uiguren, Tibeter, Christen, politisch Andersdenkende und so weiter, und so fort.



Die Vielfalt der Zivilisationen oder Chinas Antwort auf die Religion der Menschenrechte. Quelle: CGTN.

Es ist wie das Werfen von Tränengaskanistern auf eine Menge der Randalierer. Der Punkt ist, dass der mit Tränengaskanistern angegriffene Mob schnell den Trick lernt, sich mit Masken zu schützen, die Kanister wegzuschaffen und sie zurück auf die Polizei zu schleudern. Das Gleiche geschieht mit dem ganzen Kampf um Menschenrechte. Peking hat gelernt, diesen Kampf gegen Washington einzusetzen, um es auf seinem eigenen Gebiet zu schlagen.

China Global Television Network (CGNT), eine Medienplattform mit weltweiter Reichweite, bringt derzeit eine Reihe von Artikeln und eine Reihe von Dokumentarfilmen, die die amerikanische Menschenrechtsheuchelei entlarven. Die gleichen Argumente, die sich sonst gegen das Reich der Mitte richteten, werden nun benutzt, um die Vereinigten Staaten zu kritisieren. Das Lustige daran ist, dass die amerikanische Führung Peking mit allen notwendigen Waffen ausgestattet hat, um die Vereinigten Staaten effektiv dort zu treffen, wo es weh tut.

Erstens sind es die Vereinigten Staaten, die sich der ganzen Welt als ein Land präsentieren, das vom Rassismus – oder systemischem Rassismus, wie es heutzutage immer wieder heißt – zerrissen wird. China muss sich keine große Mühe geben, um dies auszunutzen. Es sind amerikanische linke Aktivisten, die täglich aufs Neue über den amerikanischen Rassismus informieren und die Welt immer wieder an vergangene Ereignisse erinnern, wie das in Tulsa, Oklahoma, wo 1921 ein rassistisch motivierter Aufruhr das Leben mehrerer Menschen forderte. Natürlich zitieren die chinesischen Propagandisten die größtmögliche Zahl der Opfer, aber dann folgen sie nur dem guten Beispiel der westlichen Länder, die keine Mäßigung kennen, wenn sie die Sowjets oder die “Nazis” beschuldigen, Millionen von Opfern getötet zu haben. In Wirklichkeit braucht sich die CGTN nicht anzustrengen: ihre Journalisten brauchen nur zu wiederholen, was amerikanische Demokraten, was die CNN-Reporter immer wieder sagen. Sie nutzen einfach all die Geschichten über arme Schwarze, die unter den Füssen und Tritten der bösen Weißen leiden, über die riesige Kluft zwischen den wenigen Reichen und den vielen, die in Armut leben, und so weiter und so fort.

Zweitens hat die CGTN eine Reihe guter Journalisten, meist Chinesen, die in den Vereinigten Staaten geboren, aufgewachsen und ausgebildet wurden und nun unschätzbare Dienste für Peking leisten können. Sie sprechen perfektes amerikanisches Englisch, sie kennen die Vereinigten Staaten in- und auswendig, sie haben genauso guten Zugang zu allem, was einem durchschnittlichen Amerikaner zugänglich ist. Das ist wohl einer der Belege dafür, wie die Vielfalt die Vereinigten Staaten stärkt.


Chinesischunterricht in perfektem Englisch. Quelle: CGTN.

Im Übrigen ist es nicht unbegründet, wenn die CGTN den Vereinigten Staaten vorwirft, die Menschenrechte zur Waffe zu machen, sie selektiv anzuwenden und dabei politische Zwecke zu verfolgen. Es ist in der Tat eine der Manifestationen des hybriden Krieges, der geführt wird, mal gegen China, mal gegen Russland, ganz zu schweigen von all den kleineren Ländern. Freilich, Menschenrechtsorganisationen – wie die Human Rights Watch – werden in einem gewissen Moment aktiviert und treten immer dann in Aktion, wenn Druck auf eine Regierung, auf ein Land ausgeübt werden soll. Die gleiche Funktion haben auch alle Umweltschutzorganisationen. In der Tat sind die beiden – Menschenrechts- und die Umweltschutzbewegung – Rammböcke, mit denen die westlichen Mächte den Widerstand ihrer politischen oder wirtschaftlichen Gegner zerschmettern.

China hat gelernt, wie man auf den Vorwurf der Menschenrechtsverletzung reagiert. Anstelle der westlichen Idee der Vielfalt, die als Schmelztiegel der Kulturen konstruiert wird, schlägt Peking eine Vielfalt der Zivilisationen vor, die unterschiedliche Wege der Entwicklung impliziert, die zu verschiedenen Nationen passen. Die chinesische Haltung legt auch den Schwerpunkt auf wirtschaftliche und soziale Menschenrechte – ein Recht auf Wasser, Nahrung, Bildung – und nicht auf sexuelle oder geschlechtliche Rechte.

“Mit dem Finger auf über 190 Länder zeigen, aber die Augen vor Menschenrechtsverletzungen auf dem eigenen Boden verschließen”, lautet die Antwort, die Peking Zuschauern des CGTN in der ganzen Welt – und dadurch die amerikanische Moral auf die Probe stellt – vermittelt, und listet die folgenden schweren Sünden auf:

– mehrere tausend Menschen, die jedes Jahr bei Schießereien in den Vereinigten Staaten getötet werden;
– die Zunahme von Hassverbrechen (ein Begriff, der übrigens von westlichen Linksintellektuellen propagiert wird);
– die Tatsache, dass 1% der amerikanischen Bevölkerung 38%-39% des gesellschaftlichen Reichtums kontrollieren (soziale Ungerechtigkeit);
– das seit 2013 laufende PRISM-Programm zur Überwachung der Online-Aktivitäten von US-Bürgern;
– die Ungleichheit der Geschlechter (wieder ein Thema, das von den amerikanischen Demokraten vorgeschlagen wurde);
– Armut der Afroamerikaner (von der amerikanischen Linken suggeriert);
– Rassismus (natürlich), und dergleichen.

Die Menschenrechtswaffe ist wie jede andere Art von Waffe. Sie funktioniert so lange, bis der Gegner es lernt, sie zu seinem eigenen Vorteil einzusetzen. Die ideologische Waffe ist eher wie die chemische, biologische oder nukleare Waffe: Sie ist ein Geist, der, einmal aus der Flasche gelassen, die Welt umkreist und wahllos hier und dort zuschlägt. Man kann sie nicht auf Zeit und Ort beschränken. Als einst westliche Länder russische Revolutionäre tolerierten, schützten und unterstützten (die Bolschewiken und andere verbrachten Jahre in Westeuropa oder in den Vereinigten Staaten und durften ihre Ideen und politischen Manifeste nach Herzenslust veröffentlichen), in der Hoffnung, Russland, den Feind Nummer eins des Westens, zu zerrütten, erzeugten sie einen Wind antiwestlicher Ideen, der nicht nur die russischen, sondern auch die westlichen Gesellschaften infizierte und zur allmählichen Veränderung der westlichen Welt führte. Während die Bolschewiken dazu dienten, das zaristische Reich zu zerstören, bauten sie sehr bald ihr eigenes Reich auf und ließen die marxistischen und leninistischen Ideen auf die ganze Welt los, auch auf China. Heute sind es die Menschenrechte und die Anbetung des Planeten, die als Instrumente in der Rivalität zwischen politischen Gebilden eingesetzt werden, um die Gegner des Westens zu unterdrücken. Sie mögen die Zielländer in Mitleidenschaft ziehen und auf die eine oder andere Weise wirksam sein, aber sie können ebenso gut an denen abprallen, die sie geschaffen haben. Haben die Architekten dieser Art vom Hybridkrieg etwas aus der Geschichte gelernt?

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