Die Redefreiheit ist nicht das, was das Menschentum, die menschlichen Gesellschaften, kennzeichnet. Nur selten taucht sie auf, für einen, der sie aus der Sicht der Geschichte nur kurzen Moment beobachten kann, und sie verschwindet bald wieder. Und wieso? Es gibt immer nämlich eine herrschende Gruppe, die an der Macht ist, und die versucht, diese Macht so lange wie möglich zu erhalten. Und diese Gruppe muss ja nicht unbedingt nur die Kontrolle über die Finanzen und die Strafverfolgung unter Kontrolle haben, sondern auch die Kontrolle über den kollektiven Geist. Es ist der Geisteszustand, in dem die Saat der Opposition gesät werden kann und in dem diese Saat aufgehen kann, es ist der Geisteszustand, der den Widerstand und Einwand gebären lässt, es ist der Geisteszustand, der die Menschen dazu bringt, sich gegen ihre Herrscher zu erheben. Das ist der einfache Grund, warum echte Redefreiheit, Meinungsfreiheit nicht mehr denkbar sind. Sie sind undenkbar, weil sie ja einfach unmöglich sind, weil sie früher oder später die Autorität der Herrscher untergraben könnten. Deshalb muss die Redefreiheit kontrolliert, kanalisiert oder auf andere Weisen beeinflusst werden. Die seltenen Momente, in denen die Meinungsfreiheit wieder auftaucht, sind die historischen Zeiten des Gleichgewichts zwischen einer absteigenden und einer aufsteigenden Herrschergruppe.
In der modernen Welt ist die Zensur zu einem Schlagwort geworden, das die schlimmsten Assoziationen hervorruft. Diktatoren greifen darauf zurück; Kommunisten haben es früher angewendet, aber in den modernen Demokratien geht es ja um die freie Meinungsäußerung… es sei denn, sie steht den Herrschenden etwa nicht im Kollisionskurs. Was tun also Demokratien, um gleichzeitig Zensur einsetzen zu dürfen und dies nicht zu tun? Die Lösung ist einfach und so alt wie die Geschichte der Menschheit. Demokratien verbieten das Wort Zensur, ohne ihre eigene Zensur selbst abzuschaffen, Demokratien erfinden neue Wege, Inhalte zu zensieren, ohne auf die alten primitiven Methoden zurückgreifen zu müssen, jemandem den Mund zuzuschnüren oder jemanden für seine Worte einzusperren. Demokratien erfinden Begriffe wie die Bekämpfung von Desinformation oder Fehlinformation, oder etwa den des Schutzes der Bevölkerung vor böswilligen oder aufstachelnden falschen Nachrichten und Ideen. Das war’s! Zensur in einer Demokratie? Gott bewahre! Dennoch werden Sie zustimmen, dass Lügen unterdrückt werden müssen, oder nicht?
Der Mensch will instinktiv die Wahrheit kennenlernen und ein richtiges Urteil darüber fällen können. Um die Wahrheit zu erfahren und um ein richtiges Urteil fällen zu können, braucht man Informationen, man braucht vielfältige Informationen aus unterschiedlichen, politisch oder ideologisch gegensätzlichen Quellen. Nur dann kann man die Wahrheit herausfinden, nur dann kann man ein richtiges Urteil fällen. Daher ist es notwendig, verschiedene Informationsquellen zu konfrontieren. Audiatur et altera pars, wie die Römer zu sagen pflegten: Lass auch die andere Partei zu Wort kommen.
Wie steht es mit Fehlinformation oder Desinformation? Wenn Fehlinformationen oder Desinformationen zusammen mit den echten Informationen in Umlauf gebracht werden, werden die letzteren auf lange Sicht die Oberhand gewinnen. Die Wahrheit setzt sich immer durch. Wie jemand sagte: Man kann nicht immer alle Menschen täuschen. Wenn, drehen wir mal das Ganze einmal um: Wenn Informationen unter irgendeinem edlen Vorwand unterdrückt werden, wenn Sie bestraft, eingeschüchtert oder lächerlich gemacht werden, weil Sie verschiedene Informationsquellen konsultieren wollen, dann können Sie sicher sein, dass diejenigen, die Sie bestrafen, einschüchtern oder lächerlich machen wollen, Sie mit Lügen gefüttert haben und nun Angst haben, dass Sie ihre Lügen aufdecken werden. Glauben Sie dabei wirklich, dass die Verlogenheit solcher Drahtzieher dann später aufgedeckt werden würde? Das ist ein Lackmustest, der uns allen zur Verfügung steht. Sie müssen kein Experte für irgendetwas sein, Sie müssen nur wachsam sein: Wenn die Mächtigen nicht wollen, dass Sie nach anderen Informationsquellen suchen, bedeutet dies eindeutig, dass sie etwas verheimlichen wollen und Angst davor haben, mit der Wahrheit konfrontiert zu werden.
Quid est veritas? hat mal bekanntermaßen Pilatus gefragt. Ja, wo ist die Wahrheit? Es mag nicht einfach sein, die Wahrheit zu finden, aber eines ist sicher: Wir werden sie niemals finden, ohne verschiedene Informationsquellen zum Vergleich heranzuziehen, ohne sie uns gegenüber verschiedenen, gegensätzlichen Argumenten zu konfrontieren. Zumindest so viel gilt als Wahrheit. Es mag sein, dass Sie keine Lust haben, sich mit verschiedenen Phänomenen, Ereignissen und Nachrichten zu befassen: Warum auch, es kostet viel Zeit und Mühe, und wir alle haben unser Leben zu leben, unsere Arbeit zu erledigen, uns um unsere Familien zu kümmern, unsere Arbeit zu machen. Daran ist nichts auszusetzen. Deshalb delegieren die Gesellschaften einige wenige Personen – wie Journalisten oder Historiker – die die Arbeit für den Rest von uns erledigen und sich darum bemühen, uns die Ergebnisse ihrer Recherche zu präsentieren. So sollte es auch sein. Die einzige Aufgabe, die uns – den Verbrauchern der Untersuchungsarbeit anderer – gestellt wird, besteht darin, uns mit den von anderen durchgeführten Untersuchungen vertraut zu machen, und zwar nach dem gleichwohl soliden Grundsatz, dass wir die uns präsentierten Informations- und Argumentationsquellen bewerten müssen. In dem Moment, in dem uns das verwehrt wird, wissen wir, dass wir belogen werden, wissen wir, dass wir von der Wahrheit abgeschnitten werden.
Es gibt viele, viele Menschen, die sich für den Weltfrieden einsetzen. Viele von ihnen schließen sich Organisationen an und nehmen an Demonstrationen zur Unterstützung des internationalen Friedens teil. Doch das sind meist nur leere Gesten. Es reicht nicht aus, zu rufen: Gebt dem Frieden eine Chance! Vielmehr müssen wir alle dazu ermutigt werden, der anderen Konfliktpartei ein faires Gehör zu schenken. Der Frieden schwindet, wenn nur eine Argumentation gilt und folglich befolgt wird. Der Frieden schwindet, wenn eine Argumentation, die als richtig angesehen wird, es uns unmöglich macht, unsere Gegner zu verstehen. Eine Argumentation macht uns zu rücksichtslosen Automaten, die glauben, die Realität zu kennen, die sich sicher sind, die Wahrheit zu kennen, während das gar nicht stimmt. Wenn Sie dem Frieden eine Chance geben wollen, ermutigen Sie die Menschen, zuzuhören und zu lesen, was die andere Konfliktpartei zu sagen hat; wenn Sie dem Frieden eine Chance geben wollen, erklären Sie denjenigen den Krieg, die ausgewählte Informationsquellen und Argumente unterdrücken. Sobald Sie die Argumente der anderen Partei kennen, wird Ihre kriegerische Haltung ja für vielleicht immer verschwinden oder zumindest deutlich ausklingen. Wenn Sie sich dagegen in Ihrer eigenen Welt der vermeintlich wahren Ideen verschanzen, werden Sie in einem bösartigen Zermürbungskonflikt enden, umso mehr, wenn die andere Konfliktpartei dasselbe tut.
Es erfordert intellektuellen Mut, zu denken. Ja, echtes Denken ist ein Akt des Mutes. Es ist ein mutiger Akt, dem Gedanken zuzugeben, dass meine Einstellung zu einem Ereignis, mein Glaube an eine Idee, meine Bewertung der Realität, vielleicht nicht ganz richtig sind. Vielleicht ist da alles falsch? Es ist ein Akt großen Mutes, zuzugeben, dass mein Gegner vielleicht nicht ganz unrecht hat, dass mein Gegner vielleicht recht hat, vielleicht… absolut recht. Es ist wahrscheinlich einfacher, in den physischen Krieg zu ziehen und in den Schützengräben zu kämpfen, als das eigene Ego zu unterwerfen und die eigenen liebgewonnenen Überzeugungen aufzugeben. Nicht umsonst sagten die Römer: Imperare sibi maximum est imperium, oder: Sich selbst zu herrschen ist die höchste Form der Macht. Es ist wirklich viel einfacher, Truppen im Feld zu befehligen oder Schwierigkeiten zu ertragen, als zuzugeben, dass das, was man als heilige Wahrheit betrachtet, nicht wahr ist.