Er war ein berühmter Vertreter einer hoch entwickelten Zivilisation, einer Zivilisation, die eine Reihe von Kulturen verschluckt und verinnerlicht hatte. Er war der Vertreter eines multikulturellen Staates, der Tausende von Ausländern aufnahm und ihnen die Staatsbürgerschaft verlieh. Er war in die philosophischen und literarischen Strömungen seiner Zeit eingetaucht, er hatte viel Wissen über die physische Welt und die sozialen Institutionen. Dennoch war er nicht in der Lage, gegenüber einem Verurteilten aus einem der entlegensten Winkel des Reiches eine Definition des Begriffs Wahrheit zu formulieren. Er ging nicht nur als derjenige in die Geschichte ein, der seine Hände wusch, um zu versuchen, sich von Schuld und Verantwortung freizusprechen, sondern auch, weil er die (törichte) Frage stellte: Was ist Wahrheit.
Der Verurteilte, der vor ihm stand, hat diese Frage nicht beantwortet. Warum eigentlich? Weil es keinen Zweck hatte. Versuchen Sie dem modernen post-westlichen Intellektuellen zu sagen, was Wahrheit ist, und er wird Sie lächerlich machen und alle Fakten, Daten und deren Interpretation, Argumentation und – ja – den gesunden Menschenverstand in Frage stellen. Er wird keinen Stein in Ihrer Argumentation auf dem anderen lassen. Sie werden von ihm lernen, dass es keine Wahrheit gibt, oder dass wir alle unsere eigenen Wahrheiten haben, oder dass alles relativ und veränderbar ist, und dass der Anspruch auf den Besitz der Wahrheit einer intellektuellen Diktatur gleichkommt, die geradewegs in den – ja, Sie es haben richtig geraten – Faschismus führt.
Deshalb hat der Verurteilte auch nicht versucht, sich auf ein Gespräch darüber einzulassen, was Wahrheit ist, denn niemand ist so blind wie der, der nicht sehen will. Pilatus, dieser erlauchte Vertreter der hochentwickelten Zivilisation, einer Zivilisation, die eine Reihe von Kulturen verschlungen und verinnerlicht hatte, ein Literat, der über alles und jedes Bescheid wusste, blieb mit seiner Frage für alle Ewigkeit. Die Anhänger des Verurteilten, die größtenteils ungebildeten Dummköpfe, die ihren Lebensunterhalt mit einfachem Gewerbe verdienten und irgendwo zwischen dem Mittelmeer und dem Toten Meer lebten, wussten, was Wahrheit ist, sie wussten es in einem solchen Maße, dass sie bereit waren, ihr Leben dafür zu widmen, und so haben ihre geistigen Erben langsam aber sicher das Römische Reich untergraben und den Untergang der Welt derer herbeigeführt, die nicht wussten, was Wahrheit ist. So einfach ist es wirklich.