Dass die Russen und Weißrussen gerade in Kasachstan einmarschieren ist gar kein Wunder: Die Umstürzler, die gegen höhere Gas- und Kraftstoffpreise protestierten, forderten auch, dass Kasachstan alle Bündnisse mit Russland aufgibt und sowohl Präsident Toqajew als auch die Regierung unverzüglich zurücktritt. Solche politische Forderungen kann sich Moskau nicht gefallen lassen. Kasachstan ist ein wichtiger Erdöl und Erdgasproduzent und liefert außerdem etwa 40 Prozent des weltweiten Uranbedarfs. In Kasachstan sitzt eine Reihe erstklassiger Bergbauunternehmen: Lukoil aus Russland, CNPC aus China, Chevron und ExxonMobil aus den USA, Shell aus den Niederlanden, ENI aus Italien, Total aus Frankreich. Sofern Erdöl- und Erdgasförderung den ausländischen Konzernen zugelassen wurde, bleibt die Uranförderung in den kasachischen Händen. Es ist ein leckerer Bissen für alle Länder, die im Moment so viel von der grünen Energie reden, in der Tat sich aber für die Zukunft, die auf Atomenergie basieren wird, vorbereiten. Russlands Atomraketen und –kraftwerke, Baikonur und Weltallpräsenz hängen ja auch von Kasachstan ab.
Es werden Statuen von Nursultan Nasarbajew umgestürzt, dem “Elbasy”, dem Vater der Nation, wie Nasarbajew auf Lebenszeit genannt wird, der einst freundliche Beziehungen zu Moskau garantierte, solange er Ehrenvorsitzende des Sicherheitsrates war. Das Tandem Nasarbajew-Toqajew hat schon aber seit einiger Zeit Funken geschlagen, nun verließ der Vater der Nation an Bord des Privatflugzeugs seines Schwiegersohns Timur Kulibajew, Milliardärs und eines der reichsten Männer Kasachstans, sein Vaterland. Solche Geschichten kennen wir aus verschiedenen Ländern. Hauptfiguren: Oligarchen, die dem fremden Kapital dienen. Hinter den Protesten könnte Muchtar Äbljasow stecken, ein anderer umstrittener Oligarch, der mit der derzeitigen Regierungsmannschaft in Kasachstan im Streit liegt und ständig in Paris lebte, sich jetzt aber in Kiew aufhält. Bitte beachten Sie: in Kiew. Denken Sie nur an die Rolle der Oligarchen in den Umwälzungen in der Ukraine in den letzten Jahren und ihre Rolle heutzutage. Dann wird es Ihnen sofort klar, dass es sich um einen Angriff des Westens handelt, nämlich der USA und der Ukraine, die mit einem Schlag in den “weichen Unterbauch” Russlands, d.h. Kasachstan, die gerade beginnenden Gespräche zwischen Biden und Putin „erleichtern“ wollen.
Toqajew hat die aktuellen Ereignisse auch innenpolitisch genutzt und die Regierung, die Nasarbajew gegenüber loyal war und vor allem Abisch Satidbaldila, den “Mann” des ehemaligen Präsidenten, der als stellvertretender Vorsitzender das Komitee für öffentliche Sicherheit leitete, abzusetzen. Infolgedessen übernahm Toqajew die volle Macht, was es ihm ermöglichte, Nasarbajew schmerzlos loszuwerden. Aus Moskauer Sicht ist das, was passiert ist, eigentlich eine Palastrevolution, ein Schock. Nicht nur, weil es, wie sich herausstellte, in der Praxis keine eiserne Garantie auf Lebenszeit für den ehemaligen Staatschef gibt, sondern auch, weil Putin sich gegenüber Nasarbajew nachweislich respektvoll und gegenüber Toqajew etwas, vielleicht sogar mehr, respektlos verhalten hat. Auf dem jüngsten GUS-Gipfel in St. Petersburg traf er sich mit „Elbasy“ zusammen und fand keine Zeit für ein Gespräch mit dem derzeitigen Präsidenten. Es ist damit zu rechnen, dass sich die Beziehungen zu Moskau im Falle der Bildung einer neuen Regierung anders und für Russland wahrscheinlich schwieriger gestalten werden.
Die westliche Welt ist von der Revolution begeistert und interpretiert die Geschehnisse auf den Straßen als einen Kampf gegen die Diktatur und um die Demokratie, aber mir scheint, dass diese Perspektive irreführend ist und dass es sich lohnt, die Situation in Kasachstan aus einem anderen, außereuropäischen Blickwinkel zu betrachten. Wir neigen dazu, die Wurzeln der revolutionären Ereignisse in der schlechten Stimmung zu sehen, die mit der Armut und dem Ausbleiben von Reformen im autoritären Staat zusammenhängt, was die Menschen zum Äußersten und auf die Straße treibt. Abgesehen davon, was man mit bloßem Auge sehen kann und was schwer zu hinterfragen ist, gibt es eine noch tiefere Ebene – die Logik der dort lebenden Menschen. In jeder zentralasiatischen Gesellschaft sind nämlich Clan- und Familienbeziehungen wichtiger als politische Trennungen oder materielle Unterschiede. Weiterlesen